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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Ausdruck brachte, dass er Pekkala kannte und dieser seinen Pass nicht vorzeigen musste.
    Pekkala ging im ersten Stock des Gebäudes durch einen langen, breiten und hohen Korridor. Die Böden waren mit roten Teppichen ausgelegt, ihre Farbe entsprach exakt der von Blut, wie Pekkala unwillkürlich bemerkte. Wären nicht die knarrenden Dielen unter dem Teppich gewesen, hätten seine Schritte keinen Laut erzeugt. Zu beiden Seiten führten hohe Türen weg. Bei früheren Besuchen hatten sie manchmal offen gestanden, und er hatte Leute bei ihrer Arbeit in großen Büros gesehen. Heute waren alle Türen geschlossen.
    Am Ende des Korridors begrüßte ihn ein weiterer Soldat und öffnete die Doppeltür zu Stalins Vorzimmer, einem großen Raum mit cremeweißen Wänden und Holzboden. In der Mitte standen drei Schreibtische. An jedem von ihnen saß ein Mann in einer kragenlosen olivgrünen Uniform, wie sie auch von Stalin getragen wurde. Nur einer von ihnen erhob sich, um Pekkala zu begrüßen: Poskrjobyschew, Stalins Sekretär. Es war ein kleiner, schwammig wirkender Mann mit enganliegender Nickelbrille und schien das genaue Gegenteil der muskulösen Arbeiter mit ihren nackten Oberkörpern zu sein, deren Statuen auf fast jedem Platz in Moskau errichtet worden waren. Das einzig Erstaunliche an Poskrjobyschew war seine zur Schau gestellte völlige Gefühllosigkeit. Er geleitete Pekkala durch das Vorzimmer zu Stalins Büro.
    Poskrjobyschew klopfte einmal an und wartete nicht auf eine Antwort. Er schwang die Tür auf und forderte Pekkala mit einem Nicken zum Eintreten auf. Sobald Pekkala im Zimmer war, schloss der Sekretär die Tür hinter ihm.
    Pekkala fand sich allein in einem großen Raum mit roten Samtvorhängen und einem roten Teppich wieder, der das äußere Drittel des Bodens bedeckte. In der Mitte war der gleiche Holzboden sichtbar wie im Vorzimmer. Die Wände waren dunkelrot tapeziert, karamellfarbene Holzleisten trennten die einzelnen Abschnitte voneinander. An diesen Wänden hingen Porträts von Marx, Engels und Lenin; die Bilder waren alle gleich groß und schienen vom selben Künstler zu stammen.
    Nah an der Wand stand Stalins Schreibtisch mit seinen insgesamt acht Beinen, zwei an jeder Ecke. Darauf lagen, penibel ausgerichtet, mehrere Akten. Stalins Schreibtischsessel hatte eine breite Rückenlehne aus burgunderrotem Leder.
    Außer dem Schreibtisch und einem mit grünem Tuch bespannten Tisch war der Raum nur karg eingerichtet. In einer Ecke befand sich eine große und sehr alte Standuhr, die schon lange nicht mehr aufgezogen worden war und keinen Ton von sich gab; ihr gelbes vollmondförmiges Pendel stand hinter der geriffelten Glasscheibe still.
    Genosse Stalin ließ ihn oft warten. Heute war es nicht anders.
    Pekkala war erst eine Stunde zuvor in die Stadt zurückgekehrt und hatte die ganze letzte Nacht nicht geschlafen. Seine Müdigkeit hatte den Punkt erreicht, an dem er Geräusche wahrnahm, als kämen sie durch eine lange Pappröhre zu ihm. Als einzige Nahrung hatte er in den zurückliegenden fünfzehn Stunden einen Becher Kwass zu sich genommen, ein Getränk aus vergorenem Roggenbrot, das er auf dem Weg zu diesem Treffen von einem Straßenhändler gekauft hatte.
    Der Händler hatte das schaumig braune Getränk aus einem durch Kohlen warmgehaltenen Kessel geschöpft und Pekkala in einem verbeulten Metallbecher gereicht. Pekkala führte den Becher an die Lippen, atmete den an verbrannten Toast erinnernden Geruch ein, trank und drehte den Becher um – so war es üblich, wenn man ausgetrunken hatte, damit der Becher bis zum letzten Tropfen geleert wurde, bevor man ihn zurückgab. Dabei fiel ihm der kleine Abdruck am Becherboden auf. Bei näherem Hinsehen erkannte er den doppelköpfigen Adler der Romanows, das Zeichen, dass der Becher früher einmal zum Haushalt der Zarenfamilie gehört hatte. Der Zar selbst hatte aus einem dieser Becher getrunken. Wie seltsam, dachte Pekkala, ein Überbleibsel des alten Reiches vor dem Kreml zu finden, als wäre es dort wie Treibgut aus einem Schiffswrack angeschwemmt worden.

D er Zar saß an seinem Schreibtisch.
    Die dunklen Samtvorhänge in seinem Arbeitszimmer waren zur Seite gezogen, das Licht fiel herein, und die Vorhänge schimmerten an den Rändern wie die irisierenden Rückenfedern eines Stares.
    Der Zar führte den schweren Becher an die Lippen und trank. Sein Adamsapfel hüpfte beim Schlucken auf und ab, mit einem zufriedenen Laut stellte er den Becher ab, nahm den blauen

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