Der Rote Sarg
stellte. Drinnen schlurfte er in seinen abgelaufenen Walenki -Stiefeln von Tisch zu Tisch und nahm die Bestellungen entgegen.
Heute hatte Bruno panierte Koteletts mit Kichererbsen und gekochten Karotten auf der Karte, die er in Holzschalen servierte. Über anderes Geschirr verfügte er nicht.
Pekkala las beim Essen die Schlagzeilen der Prawda.
Der Taxifahrer neben ihm versuchte mitzulesen und verrenkte mehrmals den Kopf. Um es ihm leichter zu machen, legte Pekkala die Zeitung auf den Tisch und bemerkte dabei, dass der Mann ihm gegenüber ihn anstarrte.
Der Fremde hatte ein kantiges Kinn, eine breite Stirn, auf der sich nicht die kleinste Falte abzeichnete, nur die blonden Haare wurden allmählich grau. Er trug typische Arbeiterkleidung – eine Wollmütze und eine doppelreihige Jacke, deren Ärmel mit Leder verstärkt waren.
Kam es an einem Ort wie diesem zu Blickkontakt, lächelte man sich an, man begrüßte den anderen, oder man sah weg, dieser hier aber starrte Pekkala weiter unumwunden an.
»Kenne ich Sie?«, fragte Pekkala schließlich.
»Ja.« Der andere lächelte. »Es ist schon eine Weile her.«
»Ich kenne viele, die ich schon eine Weile nicht mehr gesehen habe«, erwiderte Pekkala. »Die meisten von ihnen sind tot.«
»Dann kann ich ja von Glück reden, dass ich noch lebe«, antwortete der andere. »Ich heiße Alexander Kropotkin.«
»Kropotkin!« Pekkala war wie vom Donner gerührt.
Es war nicht nur lange her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, es war auch an einem ganz anderen Ort gewesen. Kropotkin war Polizeichef in Swerdlowsk gewesen, wo Pekkala ermittelt hatte, weil dort angeblich die Leichen des Zaren und seiner Familie aufgetaucht waren. Bei diesen Ermittlungen, die ihnen beiden fast das Leben gekostet hätten, hatte Kropotkin eng mit Pekkala zusammengearbeitet. Kropotkin, schon vor der Revolution Polizeichef in der Stadt, als sie noch unter dem Namen Jekaterinburg bekannt gewesen war, hatte es irgendwie geschafft, auch nach der Machtübernahme durch die Kommunisten seinen Posten zu behalten. Schon damals hatte sich Pekkala gefragt, wie lange das gutgehen konnte, da Kropotkin, ein ehrlicher, aber reizbarer Mensch, wenig Geduld aufbrachte für die verschlungenen Wege der sowjetischen Bürokratie.
Kropotkin schüttelte Pekkala die Hand.
»Was führt Sie nach Moskau?«, fragte Pekkala.
»Nun, wie Sie sehen«, und dabei lachte er verlegen, »bin ich nicht mehr Polizeichef.«
Der Taxifahrer bemühte sich hartnäckig, Pekkalas Zeitung zu lesen. Pekkalas konnte den Atem des Mannes an seiner Wange spüren. Kurzentschlossen griff er sich die Zeitung und reichte sie ihm.
Grummelnd rang sich der Taxifahrer ein Dankeschön ab, nahm die Zeitung entgegen und wandte sich schmatzend wieder seinem Kotelett zu.
Pekkala sah zu Kropotkin. »Was ist passiert? Wurden Sie versetzt? Haben Sie gekündigt?«
»Entlassen«, antwortete Kropotkin. »Weil ich den Bezirkskommissar verprügelt habe.«
»Ach.« Pekkala nickte. Es überraschte ihn nicht sonderlich, so etwas von Kropotkin zu hören. Es war wohl schon immer seine Art gewesen, eher mit dem Schlagstock als mit Hilfe der Justiz für Ordnung zu sorgen.
»Jetzt geht es mir besser«, sagte Kropotkin. »Ich muss mich nicht mehr mit irgendwelchen untergeordneten Beamten herumplagen. Ich habe mich am Moskauer Physik- und Technikinstitut zum Führer für Schwermaschinen ausbilden lassen und kann mittlerweile so ziemlich alles fahren und bedienen. Schwerlasttransporter, Traktoren, Raupen, Krane.«
»Und worauf ist nun Ihre Wahl gefallen?«, fragte Pekkala.
»Ich fahre einen Hanomag … von einem Ende des Landes zum anderen.«
Pekkala hatte von den Hanomags gehört. Die deutschen Lastwagen konnten gewaltige Ladungen transportieren. Nach den umfangreichen Straßenbauprogrammen der vergangenen Jahre waren überall zwischen Ostsee und Schwarzem Meer und von der polnischen Grenze bis nach Sibirien Transportwege entstanden.
»Die meisten Fernstraßen in diesem Land sind immer noch unbefestigt. Aber solange es eine Straße gibt, fahre ich. Und wenn ich in der Stadt bin, komme ich hierher«, sagte Kropotkin und warf einen abschätzigen Blick in seine Schale, »ganz egal, was Bruno serviert.«
»Das war eines der Lieblingsgerichte der Zarin«, sagte Pekkala.
»Das?« Kropotkin hielt seine Gabel hoch, auf die er ein Stück Fleisch von zweifelhafter Herkunft gespießt hatte. »Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Einmal hat sie einen ganzen Monat lang
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