Der Rote Sarg
dass man meinen könnte, sie hätten die Erde verlassen und taumelten durchs Weltall, verfolgten ihn die Gesänge dieser beiden Männer.
Stunde für Stunde ratterten die Räder über die Gleise; es hörte sich an, als würden riesige Messer geschliffen.
Nur draußen in der freien Landschaft kamen die Züge zum Halt. Die Wachen sprangen ab und schlugen mit den Gewehrkolben von außen gegen die Waggons, um die Leichen derjenigen zu lösen, die innen festgefroren waren. Meistens mussten sie mit Gewalt von den Wänden weggehebelt werden, so dass ihre Gesichtsabdrücke samt Bartstoppeln und Wimpern an der Eisschicht im Waggon haften blieben.
Neben den Gleisen lagen die Skelette der Toten von früheren Transporten. Rippenbögen standen aus den Stofffetzen der Kleidung, silbrige Zähne glitzerten in den Schädeln.
P ekkala fuhr sich übers Gesicht, seine Fingerspitzen kratzten über die Bartstoppeln am Kinn. Er wusste, welches Schicksal Major Lysenkowa erwartete. Er konnte nicht untätig zusehen. »In Ordnung«, seufzte er.
»Gut!« Kirow klatschte und rieb sich die Hände. »Soll ich sie holen?«
Pekkala nickte. »Bevor Sie gehen, erzählen Sie mir doch noch, was Sie über Nagorskis Leibwächter, diesen Maximow, herausgefunden haben.«
»Nichts, Inspektor.«
»Sie meinen, Sie haben sich noch nicht darum gekümmert?«
»Oh, doch«, erwiderte Kirow. »Ich habe die Polizeiakten durchgesehen, sogar die vorrevolutionären Akten der Gendarmerie und der Ochrana, soweit sie noch vorhanden sind. Aber es gibt nichts über ihn. Der erste Hinweis auf Maximows Existenz findet sich an dem Tag, an dem er von Nagorski angeheuert wurde. Soll ich ihn vorladen, damit wir ihn befragen können?«
»Nein«, antwortete Pekkala. »Wahrscheinlich hat er etwas zu verbergen, aber ich glaube nicht, dass es irgendwas mit unserem Fall zu tun hat. Ich war nur neugierig.«
»Inspektor«, sagte Kirow, »wenn Sie wollen, dass ich Major Lysenkowa noch erwische …«
Pekkala atmete hörbar ein. »Ja. Gehen Sie schon. Und wenn Sie sie finden, machen Sie ihr unmissverständlich klar, dass unser Hauptverdächtiger der Flüchtende im Wald ist. Die Angestellten in der Anlage können nicht in Frage kommen, das wissen wir, und nachdem Samarin geglaubt hat, dass der NKWD irgendwie darin verwickelt ist, können wir vielleicht davon ausgehen, dass unser Flüchtender für den NKWD gearbeitet hat. Alles, was Lysenkowa herausfindet, kann von Nutzen sein, aber sagen Sie ihr, sie soll auf keinen Fall irgendwelche Verdächtigen verfolgen oder verhaften, ohne uns vorher Bescheid zu geben.«
»Sie müssen sich um ihre Kooperation keine Sorgen machen, Inspektor. Schließlich haben Sie ihr gerade das Leben gerettet.«
Während Kirow seinen Mantel anzog, warf Pekkala einen weiteren Blick auf den Zettel, den Lysenkowa ihm gegeben hatte. Die Schriftzeichen waren im schlammigen Wasser, in dem Nagorski unter dem Panzer gelegen hatte, verlaufen. Aber alles war noch lesbar, vorausgesetzt, man konnte die chemischen Formeln entziffern. Pekkala jedenfalls war dazu nicht imstande.
Es würde etwas dauern, bis Kirow zurückkehrte, daher ging Pekkala zum Café Tilsit auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er oft sein Mittagessen zu sich nahm.
Das Café Tilsit hatte nie geschlossen. Es gab noch nicht einmal ein Schloss an der Eingangstür.
Nachts war es der Treffpunkt all derer, die in den Stunden der Dunkelheit die große Maschinerie der Stadt am Laufen hielten. Es fanden sich Wachpersonal und Museumswärter ein, Soldaten, die auf Urlaub durch die Stadt kamen, und Polizisten, deren Schicht zu Ende war. Das waren diejenigen, die eine Anstellung hatten. Daneben gab es jene, die keine Wohnung besaßen oder aus nur ihnen bekannten Gründen nicht nach Hause wollten. Es gab die mit gebrochenem Herzen, jene, die am Rand des Wahnsinns kauerten, und die, mit deren geistiger Gesundheit es schon seit langem nicht mehr zum Besten bestellt war. Tagsüber bestand die Klientel vorwiegend aus Taxi- und Lastwagenfahrern sowie Bauarbeitern mit geisterhaft weißen, dick mit Staub bedeckten Gesichtern.
Pekkala mochte das Treiben im Lokal, die beschlagenen Fenster und die langen, nackten Holztische, wo Fremde Ellbogen an Ellbogen saßen. Ihm gefiel es, dass man inmitten des Trubels ganz für sich sein konnte.
Es gab immer nur ein einfaches Gericht, serviert wurde es von Bruno, der es auch jeden Tag auf einer doppelseitigen Tafel anschrieb, die er vor dem Café auf den Bürgersteig
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