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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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zweimal am Tag panierte Hühnchenbrust gegessen«, sagte Pekkala.
    Kropotkin starrte ihn an. Dann lachte er. »Sie hätte allen Beluga-Kaviar der Welt haben können, und Sie sagen mir, sie hat den ganzen Tag nur Hühnchen gegessen?«
    Pekkala nickte.
    Kropotkin schüttelte den Kopf. »Nein, Pekkala. Das kann nicht sein!«
    Wie so viele Menschen hatte auch Kropotkin eine Vorstellung von den Romanows, die wenig mit der Realität zu tun hatte.
    Was hätte sich Kropotkin bloß gedacht, wenn er die düster eingerichteten Räume im Alexanderpalast in Zarskoje Selo gesehen hätte? Oder die vier Zarentöchter, die immer die gleiche Kleidung getragen hatten – an einem Tag gestreifte Matrosenhemden, am anderen blau-weiß gepunktete Kleider? Oder den Zarewitsch Alexej, der einmal einer Kompanie Soldaten befohlen hatte, ins Meer zu marschieren? Was hätte ihn mehr aufgebracht: das Verhalten des kleinen Prinzen oder der Gehorsam der Soldaten, die wie Aufziehpuppen in die Wellen stapften?
    Nikolaus Romanow war für die neue russische Generation in einen Dämon verwandelt worden. Für Menschen wie Kropotkin aber, die nach wie vor treu der Zeit vor der Revolution ergeben waren, haftete dem Zaren und seiner Familie etwas Märchenhaftes an. Die Wahrheit, wenn es so etwas überhaupt noch gab, lag wahrscheinlich irgendwo dazwischen.
    »Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben«, sagte Kropotkin mit einem Lächeln, »haben Sie gesagt, Sie würden das Land verlassen.«
    »Ja«, sagte Pekkala. »Das hatte ich vor.«
    »Es gab da eine Frau, oder?«, fragte Kropotkin.
    Pekkala nickte. »Sie ist in Paris. Ich bin in Moskau. Das ist viele Jahre her.«
    Kropotkin schob seine halb geleerte Schale weg. »Es ist stickig hier drinnen. Kommen Sie mit nach draußen, auf einen Spaziergang?«
    Auch Pekkala war der Appetit vergangen.
    Sie standen auf. Der Taxifahrer griff nach Kropotkins Schale und zog sie zu sich heran.
    Die beiden Männer traten hinaus auf die Straße. Es nieselte leicht. Sie schlugen den Kragen hoch.
    »Sie arbeiten immer noch für die?«, fragte Kropotkin.
    »Die?«
    Mit dem Kinn wies Kropotkin zu den Kuppeln des Kremls, die in der Ferne über den Dächern sichtbar waren. »Besondere Operationen?«
    »Ich mache das, was ich immer gemacht habe«, erwiderte Pekkala.
    »Und nie etwas bedauert?«, fragte Kropotkin mit den Händen in den Taschen.
    »Was denn?«
    »Dass Sie im Land geblieben und nicht weggegangen sind, als Sie es gekonnt hätten?«
    »Ich gehöre hierher«, antwortete Pekkala.
    »Eine Frage, Pekkala. Bleiben Sie, weil Sie es so wollen, oder weil Sie müssen?«
    »Na, wenn Sie mich fragen, ob ich mit dem nächsten Zug einfach das Land verlassen könnte, dann würde sich das zugegebenermaßen als etwas schwierig erweisen.«
    »Hören Sie sich eigentlich selbst?«, lachte Kropotkin. »Hören Sie, was Sie da sagen? Sie können hier nicht raus, auch wenn Sie es wollten.« Er blieb stehen und wandte sich Pekkala zu. »Sie und ich, wir sind die Letzten der alten Garde. Solche wie uns wird es bald nicht mehr geben. Wir sind es uns selbst schuldig, dass wir zusammenhalten.«
    »Was wollen Sie damit sagen, Kropotkin?«
    »Was, wenn ich Ihnen sage, dass ich Ihnen zur Flucht verhelfen könnte?«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    »Doch, Sie verstehen, Pekkala. Sie verstehen ganz genau, was ich Ihnen sage. Ich komme mit meinem Lastwagen durch ganz Russland. Ich kenne die Fernstraßen dieses Landes wie die Linien in meiner Hand. Ich kenne Straßen, die noch nicht mal auf den Karten eingezeichnet sind, Straßen, die sich hin und her winden und dabei mehrmals die Grenze überqueren, weil sie sehr viel älter sind als die Grenzen. Ich weiß, wo Kontrollpunkte sind und wo nicht.« Er fasste Pekkala am Arm. »Ich kann Sie hier rausschaffen, alter Freund. Die Zeit wird kommen, wo Sie sich entscheiden müssen zwischen dem, was Ihre Arbeit von Ihnen verlangt, und was Ihr Gewissen Ihnen sagt.«
    »Bislang«, entgegenete Pekkala ruhig, »kann ich ganz gut damit leben.«
    »Aber wenn Sie einmal an diesen Punkt kommen, dann denken Sie an Ihren alten Freund Kropotkin. Mit meiner Hilfe können Sie ein neues Leben anfangen.«
    In diesem Augenblick spürte Pekkala nicht nur Kropotkins Griff am Arm, sondern ihm war, als hätte sich eine Hand um seine Kehle gelegt. Er hatte sich mit seinem Hierbleiben abgefunden. Hatte er zumindest gedacht. Aber jetzt, als er Kropotkins Worte hörte, wurde ihm bewusst, dass seine Fluchtgedanken so stark und lebendig

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