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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Zuschauerraum verantwortlich. Das war ihre Aufgabe. Niemand tat etwas. Also dachte sie, es falle vielleicht auch in ihre Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das Treffen endlich beginnen konnte. Je länger das Klatschen anhielt, umso mehr war sie davon überzeugt, dass sie etwas unternehmen musste, nachdem sonst keiner etwas tat.«
    Lysenkowa führte langsam ihre Hände zusammen, nahm sie auseinander und ließ sie dann so in der Luft stehen. »Und so hat sie den Applaus gestoppt. Das war der Augenblick, auf den Stalin gewartet hatte, aber nicht, damit er mit seiner Rede beginnen konnte. Er sah zu meiner Mutter. Das war alles. Er sah sie nur an. Dann verließ er das Podium, und er und seine Begleiter fuhren davon. Keiner hat auch nur ein Wort gesprochen. Es regnete immer noch in Strömen. Die Buchstaben auf dem Banner waren vollständig weggewaschen. Eine Woche darauf wurden meine Mutter, mein Vater und ich in die Arbeitssiedlung Dalstroj Sieben deportiert.«
    »Die Arbeitssiedlung«, flüsterte Pekkala. Und dann verschwamm ihm alles vor den Augen, während er in Gedanken an diesen Ort zurückkehrte.

D alstroj Sieben war eine Ansammlung von notdürftig zusammengezimmerten Blockhütten, die sich an den Fluss im Tal von Krasnagoljana drängten.
    Die Stelle lag keine zehn Kilometer von Pekkalas Hütte entfernt. Er war fünf Jahre zuvor in dieses Tal gekommen, im Frühsommer, so dass er genügend Zeit gehabt hatte, um an seiner Hütte zu arbeiten, bevor der erste Schnee fiel. Seine Unterkunft war eine halb in den Boden gegrabene Erdhütte, eine Semljanka , solide gebaut und mit Lehm und Gras abgedichtet.
    Die Bewohner von Dalstroj Sieben aber waren kurz vor dem ersten Frost gekommen, es war keine Zeit mehr gewesen, vor dem Einsetzen des Winters angemessene Unterkünfte zu errichten.
    Arbeitssiedlungen oder Sondersiedlungen, wie sie auch genannt wurden, stellten eine Unterart des Gulag dar; in Gulags wurden Eheleute häufig voneinander getrennt, die Kinder wurden in Waisenhäuser gebracht, wenn sie zu jung zum Arbeiten waren. In Arbeitssiedlungen wurden ganze Familien deportiert, man setzte sie im Wald oder in der Tundra ab und überließ sie sich selbst, bis man sie vielleicht als Arbeiter in einem der Gulags brauchte. Bis dahin waren solche Siedlungen nichts anderes als Gefängnisse ohne Mauern. Manche von ihnen überdauerten. Häufig genug aber fanden die Wachleute, die neue Arbeitskräfte abholen wollten, nur noch Geisterdörfer vor, und von den Menschen, die hier gelebt hatten, fehlte jede Spur.
    Dalstroj Sieben gehörte zum Zuständigkeitsbereich des berüchtigten Lagers Mamlin Drei auf der anderen Talseite. Die gut zwanzig Bewohner von Dalstroj Sieben waren Städter, wie sich aus den Fehlern, die sie begangen hatten, leicht erkennen ließ: Sie hatten die Hütten zu nah am Fluss errichtet, weil sie nicht wussten, dass er im Frühjahr über die Ufer treten würde; sie hatten die Kamine zu niedrig gebaut, so dass der Rauch wieder in die Hütten getrieben wurde. Wenn der Winter anbrach und wie eine weiße Flutwelle durch das Tal fegte, würde dies den sicheren Tod der Bewohner bedeuten.
    Pekkala – eine in Lumpen gehüllte Gestalt, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen aufwies – konnte es mit eigenen Augen sehen, wenn er sie von seinem Versteck aus beobachtete: einem Felsvorsprung, von dem er auf das Tal hinunterblicken konnte, in dem man sie ausgesetzt und angewiesen hatte, bis zum nächsten Frühjahr zu überleben.
    Er zeigte sich ihnen nicht, weil er nichts für sie tun konnte. Außerdem befand er sich hier außerhalb der Grenzen des Borodok-Lagers. Dort war er offiziell als Häftling registriert und mit der Aufgabe betraut, die zum Fällen bestimmten Bäume zu markieren, weshalb er sich innerhalb des Borodok-Sektors frei bewegen konnte. Falls in Borodok bekannt würde, dass man ihn auf dem Gebiet von Mamlin Drei, auf der anderen Talseite, gesehen hatte, würde man sofort Soldaten schicken, um ihn wegen seiner Grenzüberschreitung zu erschießen.
    Anders als Mamlin Drei war Borodok ein Arbeitslager. Es wurde dort Holz verarbeitet, angefangen vom Fällen der Bäume bis hin zum Transport der gedarrten Bretter in den Westen.
    Die Vorgänge in Mamlin Drei galten als geheim, Pekkala hatte bei seiner Ankunft nur gehört, dass der Aufenthalt dort schlimmer war als der Tod. Daher erfuhren die Verurteilten erst davon, wenn sie bereits eingetroffen waren.
    Pekkalas einziger Gefährte in der verbotenen Zone war ein

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