Der Rote Sarg
Er hatte Goldzähne. Ganz vorn, oben und unten. Daran erinnere ich mich. Er hatte, als er jung war, einen Schlag von einem Pferdehuf abbekommen. Jedes Mal, wenn er lächelte, war es, als hätte er von der Sonne abgebissen.«
»Was geschah, nachdem Sie den Brief geschrieben hatten?«
»Er hat mich durch die Wälder zu den Toren des Borodok-Lagers gebracht. Wir sprachen dabei kaum ein Wort, obwohl es mehrere Stunden gedauert hat, das Lager zu erreichen. Als wir dort ankamen, stopfte er mir ein zusammengeknotetes Tuch in die Tasche und klopfte ans Tor. Bis die Wachen erschienen, war er wieder im Wald verschwunden. Ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Als die Wachen mich fragten, woher ich gekommen sei, zeigte ich ihnen den Brief. Dann brachten sie mich ins Lager.
In der ersten Nacht nahm ich das Tuch heraus, das er mir zugesteckt hatte. Ich löste den Knoten, und darin lagen zwei Maiskörner, wie ich im ersten Moment glaubte. Erst dann sah ich, dass es seine Zähne waren. Er hatte sie sich gezogen. Im Gold waren noch die Abdrücke der Zange zu erkennen. Sie waren das Einzige von Wert, das er mir hinterlassen konnte. In den ersten Monaten im Lager kaufte ich damit Lebensmittel. Ohne sie wäre ich verhungert.
Schließlich teilte man mir Arbeit zu, ich brachte Kübel mit Essen zu den Arbeitern, die die Baumstämme für das Sägewerk im Lager bearbeiteten. Dadurch hatte ich Anspruch auf Essensrationen, und so überlebte ich. Nach fünf Jahren wurde ich nach Moskau in ein Waisenhaus geschickt. Ich weiß nicht, was mit meinen Eltern geschehen ist, aber ich weiß jetzt, was mein Vater damals schon wusste: Sie hatten keine Chance, lebend herauszukommen.«
Jetzt endlich verstand Pekkala, warum die Bewohner von Dalstroj Sieben exekutiert worden waren. Lysenkowas Vater hatte seiner Tochter einen Ausweg ermöglicht, allerdings nur auf Kosten des eigenen Lebens. Womit Lysenkowas Vater nicht gerechnet hatte: Die Lagerleitung beschloss, nicht nur ihn zu bestrafen, sondern die ganze Siedlung. Als die desertierten Wachposten schließlich gefasst wurden, hatten die Hinrichtungen bereits stattgefunden.
»Sie sehen also, Inspektor«, sagte Lysenkowa, »ich weiß, was nötig ist, um zu überleben. Dazu gehört auch, dass man auf Gerüchte nichts gibt. Aber Sie sollen die Wahrheit kennen.«
Pekkala begleitete sie zur Tür. Es war unnötig, ihr zu erzählen, was er gesehen hatte. Sie wusste, was sie wissen musste, und er war froh, dass er und Kirow beschlossen hatten, ihr zu helfen.
Es klingelte.
Pekkala setzte sich blinzelnd im Bett auf und blieb schlaftrunken auf der Bettkante sitzen. Kurz darauf, als er schon meinte, er hätte alles nur geträumt, klingelte es wieder, laut und durchdringend. Jemand war unten auf der Straße. Es gab zu jeder Wohnung eine Klingel. Aber jedes Mal, wenn bislang zu dieser Nachtzeit bei ihm geklingelt worden war, hatte jemand entweder die falsche Klingel erwischt oder sich ausgesperrt und wollte nun wieder ins Gebäude.
Grummelnd legte er sich wieder hin. Sollte der Betreffende doch eine andere Klingel benutzen.
Aber wieder läutete es und wollte auch nicht mehr aufhören. Pekkala bekam einen trockenen Mund. Hier lag kein Irrtum vor. Wurde mitten in der Nacht Sturm geläutet, konnte es nur eines bedeuten: Sie kamen, um ihn zu holen. Nicht mal mehr der Schattenpass konnte ihn jetzt noch retten.
Pekkala zog sich an und eilte die Treppe hinunter. Er musste an den gepackten Koffer denken, den Babajaga in einer Ecke ihres Zimmers stehen hatte, und wünschte, er hätte sich ebenso vorbereitet. Unten im schäbigen, durch eine nackte Glühbirne beleuchteten Treppenhaus sperrte er die Haustür auf. Und während er zum klapprigen Türknauf griff, um die Tür zu öffnen, stand ihm das, was er sich bislang nur schemenhaft vorgestellt hatte, plötzlich klar und deutlich vor Augen.
Wahrscheinlich würde er nie erfahren, welche Grenze er überschritten hatte, damit es nun so weit gekommen war. Vielleicht hatte er, als er Stalin durch den Geheimgang gefolgt war, eine Frage zu viel gestellt. Vielleicht war Stalin zu dem Schluss gekommen, dass er das Schicksal der Weiße-Gilde-Agenten niemals hätte verraten dürfen, so dass er nun alles unternahm, um den Fehler ungeschehen zu machen.
Wie auch immer, Pekkala würde nicht lange genug leben, um den Grund herauszufinden. Sie hatten ihn schon einmal nach Sibirien geschickt. Sie würden es nicht noch einmal tun. Pekkala zweifelte nicht daran, dass er in der
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