Der Rote Sarg
»Bleiben Sie hier!«, sagte er und ging aufs Feld zurück. Diesmal zog er den Zweig heraus, ging mehrere Meter weiter und rammte ihn wieder in die Erde. Dann packte er eines der in braunes Wachspapier gewickelten Brote und rammte es auf den Stock.
»Ich schieße nicht auf mein Brot!«, rief Kirow.
Pekkala fuhr herum. »Wollen Sie nicht? Oder können Sie nicht?«
»Wenn ich es treffe«, sagte Kirow, »lassen Sie mich dann in Ruhe?«
»Abgemacht«, stimmte Pekkala zu.
»Und Sie werden zugeben, dass ich ein guter Schütze bin?«
»Fordern Sie Ihr Glück nicht heraus, Genosse Kirow.«
Drei Minuten später waren sie im Emka wieder unterwegs.
Pekkala saß hinten, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und spürte die Wärme der Revolvertrommel durch das Lederholster.
»Wissen Sie«, sagte Kirow fröhlich, »ich habe eine Verdiensturkunde vom Komsomol für die Teilnahme an einer Scharfschützenschulung. Sie hängt bei mir zu Hause an der Wand.«
»Die muss mir bislang entgangen sein«, maulte Pekkala.
»Im Wohnzimmer«, sagte Kirow, »gleich neben meinem Musikpreis.«
»Sie haben einen Musikpreis?«
»Für meinen Vortrag von ›Abschied der Slawin‹«, erwiderte Kirow. Er holte tief Luft, warf sich in die Brust, fixierte im Rückspiegel sein Publikum und schmetterte los. »Leb wohl, du Land der Väter …«
Ein Lüpfen der Augenbraue von Pekkala brachte ihn zum Schweigen.
Maschinengewehrfeuer ertönte im Umkreis der Gebäude auf dem Nagorski-Gelände.
Im beengten Raum des Eisenhauses verschmolz das Rattern der einzelnen Salven zu einem unaufhörlichen, ohrenbetäubenden Dröhnen. Pekkala und Kirow standen am Eingang und warteten, während sich der Patronengurt aus der grünen Munitionskiste schlängelte und ein glitzernder Hülsenschauer aus dem Auswurffenster gespien wurde. Als sie schon meinten, es würde niemals aufhören, war der Gurt zu Ende, abrupt verstummte das Dröhnen. Die letzten ausgeworfenen Hülsen kullerten klirrend über den Betonboden.
Gorenko und Uschinskij stellten die Waffe zur Seite, standen auf und nahmen die Gehörschützer ab. Über ihren Köpfen hing dichter Rauch.
Die Waffe war auf eine Pyramide aus Hundert-Liter-Fässern gerichtet. Der Diesel, der sich sonst in diesen Fässern befand, war durch Sand ersetzt worden, der nun aus den klaffenden Löchern rieselte und am Boden kegelförmige Haufen bildete.
Uschinskij hielt eine Stoppuhr hoch. »Dreiunddreißig Sekunden.«
»Besser«, sagte Gorenko.
»Aber noch immer nicht gut genug«, erwiderte Uschinskij. »Nagorski würde uns den Marsch blasen …«
»Meine Herren«, sagte Pekkala, und seine Stimme hallte von den Trägern des Wellblechdachs wider.
Überrascht fuhren die beiden Wissenschaftler herum.
»Inspektor!«, rief Uschinskij. »Schön, Sie wieder im Tollhaus zu sehen.«
»Woran arbeiten Sie hier?«, fragte Kirow.
»Wir testen die Feuerrate der Maschinengewehre des T-34«, antwortete Uschinskij. »Sie stimmt noch nicht.«
»Aber wir sind nah dran«, sagte Gorenko.
»Wäre der Oberst noch am Leben«, beharrte Uschinskij, »würde er sich einen solchen Kommentar aufs entschiedenste verbitten.«
Pekkala ging zu den Wissenschaftlern, zog den Zettel aus der Tasche und hielt ihn den Männern hin. »Kann mir einer von Ihnen sagen, worum es sich hier handelt?«
Beide betrachteten die Seite.
»Das ist die Handschrift des Obersts«, sagte Uschinskij.
Gorenko nickte. »Das ist eine Formel.«
»Formel wofür?«, fragte Pekkala.
Uschinskij schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Chemiker, Inspektor.«
»Solche Sachen fallen nicht in unser Fachgebiet«, stimmte Gorenko zu.
»Gibt es jemanden, der uns hier weiterhelfen könnte?«, fragte Kirow.
Die Wissenschaftler schüttelten den Kopf.
Pekkala seufzte. Sie hatten den weiten Weg umsonst auf sich genommen. »Gehen wir«, sagte er zu Kirow.
Als sie sich umdrehten, begannen die Wissenschaftler miteinander zu tuscheln.
Pekkala blieb stehen. »Was gibt’s, meine Herren?«
»Nun ja …«, begann Uschinskij.
»Halten Sie den Mund«, befahl Gorenko. »Oberst Nagorski mag ja tot sein, aber es ist immer noch sein Projekt, und seine Vorschriften sollten befolgt werden!«
»Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr!«, rief Uschinskij. Er trat gegen eine leere Patronenhülse, die kreiselnd über den Betonboden schlitterte und irgendwo zwischen den schlafenden Ungetümen halb zusammengebauter Panzer verschwand. »Das alles ist jetzt völlig egal! Kapieren Sie das
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