Der Rote Sarg
Mann namens Tatischew, der aus Mamlin Drei geflohen war, ein ehemaliger Feldwebel eines zaristischen Kosakenregiments. Suchtrupps hatten nach seiner Flucht die Wälder durchkämmt, ihn aber nicht finden können – aus dem ganz einfachen Grund, weil er sich dort versteckt hatte, wo sie ihn am wenigsten suchen würden: in Sichtweite von Mamlin Drei. Hier fristete er ein noch ärmlicheres Dasein als Pekkala.
Pekkala und Tatischew trafen sich einmal im Jahr auf einer Lichtung an der Grenze zwischen dem Lager Borodok und Mamlin. Tatischew war äußerst vorsichtig und hielt es für zu gefährlich, sich öfter zu treffen.
Von Tatischew erfuhr Pekkala, was sich in Mamlin Drei abspielte. Das Lager war als Forschungszentrum an menschlichen Probanden ausgewählt worden. Dort wurden Unterdruck-Experimente durchgeführt, um zu bestimmen, welche Auswirkungen der Aufenthalt in großen Höhen auf das menschliche Gewebe hatte. Menschen wurden in Eiswasser getaucht, wiederbelebt und erneut eingetaucht, um herauszufinden, wie lange ein abgeschossener Pilot in den eisigen Gewässern nördlich von Murmansk überleben konnte. Manchen Gefangenen wurden Frostschutzmittel ins Herz gespritzt. Andere wachten auf dem OP-Tisch auf und stellten fest, dass man ihnen sämtliche Gliedmaßen amputiert hatte. Es war ein Ort des Grauens, wie Tatischew ihm erzählte, an dem die Menschheit auf ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt war.
Drei Jahre, nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, traf Pekkala, als er die Lichtung erreichte, nur noch auf Tatischews abgenagte Knochen. Die Metallösen seiner Stiefel fanden sich in der Losung der Wölfe, die ihn gerissen hatten.
Gegen Ende des Winters kehrte Pekkala nach Dalstroj Sieben zurück. Die Schneeschmelze hatte bereits eingesetzt. Zwei Nächte zuvor war er wachgeworden, weil er glaubte, das Eis auf dem Fluss würde brechen, aber dann wurde ihm klar, dass die knallenden Geräusche, die durch den Wald hallten, Schüsse aus der Richtung von Dalstroj Sieben waren.
Am nächsten Tag brach er dorthin auf.
Da kein Rauch aus den Kaminen kam, stieg er zur Siedlung hinunter. Er öffnete eine Tür nach der anderen und trat in die Dunkelheit.
Die Menschen lagen in den Hütten verstreut wie Puppen, die ein wütendes Kind weggeschleudert hatte. Eine zarte Frostschicht bedeckte die Leichen. Die Bewohner waren alle erschossen worden. Die Einschusslöcher auf der Stirn der Toten starrten ihn an wie ein drittes Auge.
Mit seinen lumpenumwickelten Händen hob Pekkala einige Patronenhülsen auf. Alle waren für die Armee produziert worden, alle waren kaum ein Jahr alt. Daher wusste Pekkala, dass die Wachmannschaft von Mamlin Drei die Erschießungen durchgeführt haben musste. Keine der Nomadengruppen in der Region hatte Zugang zu solch neuer Munition. Pekkala wunderte sich, warum die Wachleute den weiten Weg zur Siedlung auf sich genommen hatten, um die Bewohner zu liquidieren, wenn sie den Winter doch sowieso nicht überlebt hätten.
Er berührte die eingefallene und steinharte Wange einer am Herd gestorbenen jungen Frau. Allem Anschein nach war sie zu schwach gewesen, um sich noch aus ihrem Stuhl zu erheben, als ihre Mörder in die Hütte gestürmt kamen. Unter der Wärme seines Atems schmolzen die weißen Kristalle an ihrem Haar, kupferrote Strähnen wurden sichtbar, und einen kurzen Augenblick war es, als würde Leben in den Leichnam zurückkehren.
Zwei Wochen später rissen die Frühjahrsfluten, die durch das Tal brachen, die Gebäude und alles darin mit sich fort.
W ie konnten Sie entkommen?«, fragte Pekkala.
»Nachdem wir unsere Unterkünfte gebaut hatten«, erzählte Lysenkowa, »hat mich mein Vater eine Aussage aufschreiben lassen, wonach er auf dem Weg zur Siedlung zwei Wachleute umgebracht habe. Es wurden wirklich zwei Wachleute vermisst, aber sie waren von sich aus fortgelaufen. Keiner in unserer Gruppe hatte etwas damit zu tun. Da wir kein Papier und keinen Stift hatten, nahmen wir Birkenrinde und das angekohlte Ende eines Stöckchens. Ich war damals zehn, alt genug, um zu wissen, dass nichts, was ich aufschrieb, der Wahrheit entsprach. Ich fragte ihn, ob er nicht Probleme bekommen würde, wenn jemand glaubte, was ich geschrieben habe, und er sagte, das sei nicht wichtig. ›Was sollen sie denn schon machen?‹, fragte er. ›Mich nach Sibirien schicken?‹«
»Wie gut erinnern Sie sich noch an Ihren Vater?«, fragte Pekkala.
Lysenkowa zuckte mit den Schultern. »Manches ist klarer als anderes.
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