Der rote Tod
betrunken zu sehen. Nur war er diesmal nicht wieder nüchtern geworden. Seine Kleidung war durchweicht von dem Wetter, und – wie Oliver entdeckte – sein rechtes Handgelenk war schlimm gebrochen. Er konnten niemandem erzählen, wie er an diese Verletzung gekommen war, und er schien sich auch keine sonderlich großen Sorgen darüber zu machen.
Er lächelte immer noch und machte Witze, aber was er sagte, war für andere häufiger unverständlich als verständlich, als ob er in Gedanken ein völlig anderes Gespräch geführt hätte. Er erschien an der Universität, aber konnte sich nicht konzentrieren. Früher oder später verließ er den Hörsaal. Seine Freunde deckten ihn, bis sein Tutor genug davon hatte und ihn zu einem Gespräch bestellte. Danach wurde rasch nach seinen Eltern Beschickt, die Warburton nach Hause zurückholten.
Wie Oliver hatte ich auch bei ihm Halt gemacht, um mich von ihm zu verabschieden. Ich wurde mit abwesender Herzlichkeit empfangen, aber er schenkte mir sein altes Lächeln, was mir irgendwie ein schlechtes Gefühl vermittelte. Ich versuchte mit ihm zu reden, aber er erwies mir nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Das einzige Mal, dass er etwas Lebendigkeit zeigte, war, als sein Blick auf meinen Stockdegen fiel. Sein Gesicht bewölkte sich, und er begann, sich sein krummes Handgelenk zu reiben, wo die Knochen noch immer schmerzten. Sein Kopf schwankte von einer Seite zur anderen, und der aufmerksame Lakai, dessen Aufgabe es war, das Wohlbefinden seines jungen Herrn zu überwachen, schritt vor und legte mir nahe zu gehen.
»Es ist schrecklich, nicht wahr?«
Oliver stimmte mir zu. »Aber ich habe vor, mich um ihn zu kümmern. Ab und zu hat er einen lichten Moment; der Trick ist es , ihn zum Bleiben zu bewegen. Ich wünschte, ich würde den Grund dafür kennen. Die Ärzte haben bei ihm alles diagnostiziert, von der Fallkrankheit bis hin zu Gicht, was bedeutet, dass sie keine Ahnung haben. Und die Behandlung! Alles von Laudanum bis hin zu Moorbädern.« Er sah gleichzeitig grimmig und traurig aus. Warburton war sein bester Freund gewesen.
»Das ist wahrscheinlich die Barkasse, die mich zum Schiff Dringen wird«, bemerkte ich, indem ich hindeutete.
»Nicht mehr lange.« Er drehte sich um und reckte den Hals in Richtung der Menschenmenge, die am Kai auf und ab lief.
»Suchst du jemanden?«
Er zuckte die Achseln. »Ich dachte nur, dass ... nun, dass deine Miss Jones vielleicht herkommen würde, um ... du weißt schon dich zu verabschieden.«
Nein, sie würde nicht kommen. Es war heller Tag, und Nora war niemals ... niemals ... etwas. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, an was ich gerade gedacht hatte. Ärgerlich, aber es hatte vermutlich wenig zu bedeuten.
»Sie war in letzter Zeit sehr beschäftigt«, erzählte ich ihm. »Der Zustand des armen Warburton hat sie tief getroffen, weißt du.« Bald nachdem Warburton nach London abgereist war, war auch Nora wieder dorthin zurückgezogen. »Seine Mutter hat mir gesagt, dass sie oft hingeht, um ihn zu besuchen. Das scheint ihm gut zu tun, auch wenn es nicht lange anhält.«
Noras plötzliche Abreise aus Cambridge hatte Oliver verwirrt. »Du und sie – ihr hattet keinen Streit oder so etwas, oder? Ich meine, als du diesen Brief bekamst, in dem stand, dass du zurückreisen sollst...» »Was für eine absurde Idee.« Aber er war nicht überzeugt. »Lass mich dir versichern, dass wir uns als die besten Freunde getrennt haben. Sie ist ein reizendes Mädchen, wahrhaft reizend. Es ist eine Wonne, mit ihr befreundet gewesen zu sein, aber alles hat einmal ein Ende.«
»Du nimmst das ja ziemlich gelassen, muss ich sagen. Ich dachte, du wärst in sie verliebt.«
Es war an mir, die Achseln zu zucken. »Ich habe sie geliebt, natürlich. Ich werde sie ganz sicher vermissen, aber es gibt auch andere Mädchen auf dieser weiten Welt.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Nichts, wirklich. Nur Kopfschmerzen.« Abwesend rieb ich mir den Hinterkopf und den kleinen Wulst der Narbe, die unter meinem Haar verborgen war. Ich hatte sie mir bei einer Trinkorgie vor einigen Monaten zugezogen, bei der ich gestolpert und gegen irgendetwas gefallen sein musste. Gelegentlich machte sie mir Arger. »Du wirst dich für mich auch um sie kümmern, oder?«
»Wenn du es wünschst. Aber schreibst du ihr nicht auch selbst?«
»Ich ... glaube nicht. Eine saubere Trennung, verstehst du. Aber ich würde mich besser fühlen, wenn du mich wissen lassen würdest, wie es ihr geht. Mir fällt
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