Der Rote Tod
das ist sogar möglich. Ich denke nur, dass dieser Mörder von einem bestimmten Motiv getrieben wird. Er hat eine alte Legende wieder zu schaurigem Leben erweckt. Er tötet, er bestraft, und ich frage mich, wer dahinter steckt.«
Hanna Kohler fühlte sich bemüßigt, eine Antwort zu geben. »Es ist der Rote Tod.«
»Ja, das schon. Aber das ist eine Sage und...«
»Sein Gesicht glänzte nass.«
»Bitte?«
»Ja, nass. An verschiedenen Stellen, aber das ist kein Wasser gewesen.« Das Mädchen knetete seine Hände. »Ich... ich... glaube, es ist von innen gekommen.«
»Wie meinst du das?«
»Blut?«
»Ja, natürlich. Blut haben wir auch auf deiner Stirn gefunden, um es zu analysieren. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Aber das ist jetzt zweitrangig, denke ich. In ein paar Stunden haben wir Bescheid. Es geht jetzt um dich. Ich weiß ja, dass du wieder zu deinen Eltern willst, aber ich frage mich, ob das gut ist?«
Hanna zeigte sich verunsichert und schüttelte den Kopf. »Warum sollte das nicht gut sein?«
Ulrike Dorn nickte vor sich hin. »Ich denke da schon einen Schritt weiter. Du bist eine Zeugin und...«
Hanna war intelligent genug, um zu wissen, worauf die Frau hinauswollte. »Moment, Frau Dorn, so sehe ich das nicht. Überhaupt nicht. Ich bin eine Zeugin, aber das hat er schon vorher gewusst. Verstehen Sie? Und deshalb hat er mich ja auch entkommen lassen. Er sieht in mir keine Gefahr. Ich glaube nicht, dass er kommt, um mich umzubringen. Ich bin ihm das nicht wert.«
Ulrike Dorn hatte zugehört. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dieses Kind, das eigentlich keines mehr war, wirkte so erwachsen. Verspielt waren zwölfjährige Jungen und Mädchen dieser Generationen sowieso kaum, es sei denn, sie hingen stundenlang vor den Computern oder den Game Boys. Bei diesem Mädchen kam noch etwas hinzu. Hanna nahm alles sehr gelassen hin. Sie war nahezu cool und wirkte so, als wüsste sie über alles Bescheid. Hanna war ihrem Alter weit voraus. Wahrscheinlich war sie mehr mit Erwachsenen zusammen als mit Jungen und Mädchen in ihrem Alter.
»Du bist wirklich ein Phänomen, meine Liebe«, erklärte die Kriminalbeamtin.
»Warum bin ich das?«
»Einfach so. Ich weiß es nicht. Ich selbst habe keine Kinder, aber ich brauche nur an meine Nichten zu denken. Die sind anders. Nicht so erwachsen.«
»Ich lese viel.«
»Und was?«
»Alles.«
»Auch Gruselgeschichten?«
Hannas Augen leuchteten auf. »Klar, die mag ich am liebsten. Aber auch welche, die in der Zukunft spielen. Zeitreisen in ferne Galaxien. Das macht mir Spaß.«
»Dann kennst du auch die Sage vom Roten Tod?«
Ein heftiges Nicken war die Antwort.
Ulrike Dorn strich durch ihr braunes Haar. »Man soll diesem Roten Tod hier in der Stadt übel mitgespielt haben, wenn man den alten Aufzeichnungen glauben darf.«
»Man hat ihn vertrieben.«
»Wie bei dem Rattenfänger von Hameln.«
Hanna sprang beinahe auf. Sie war jetzt in ihrem Element. »So ist es gewesen. Das stimmt alles, ehrlich. Das sind richtige Parallelen, Frau Dorn.«
Bevor sie dieses Thema weiter erörtern konnten, hörten sie aus dem Nebenraum laute Stimmen. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen, und eine schrille Frauenstimme war zu hören.
»Ich will zu meiner Tochter! Verdammt noch mal, ich muss zu ihr. Das ist ja furchtbar.«
»Mutti!« Hanna schoss in die Höhe und schaute der Frau entgegen, die verfolgt von zwei Beamten, in den Raum stürmte und dabei sofort Kurs auf ihre Tochter nahm.
Gertrud Kohler war aus dem Schlaf geweckt worden und hatte sich in aller Eile einen Jogginganzug übergestreift. Sie wirkte gehetzt und aufgelöst, das fahlblonde Haar war durcheinander. In den weit geöffneten Augen funkelte Angst.
Ulrike Dorn war nicht auf ihrem Platz sitzen geblieben. Sie stand jetzt vor dem Stuhl und beobachtete, wie Gertrud Kohler ihre Tochter in die Arme schloss. Sie gönnte es den beiden und winkte den Polizisten beruhigend zu, die ihren Platz an der Tür verließen und sich in den Nebenraum zurückzogen.
»Mein Gott, mein Gott, was habe ich Angst um dich gehabt. Stimmt das denn alles, was ich gehört habe?«
»Ich denke schon«, sagte Frau Dom.
Die Mutter lockerte den Druck und schaute Ulrike an. »Wer sind Sie denn?«
»Kriminalhauptkommissarin Ulrike Dorn, Frau Kohler. Ich leite hier den Fall...«
»Dann finden Sie den Mörder!«, schrie Gertrud Kohler. »Verdammt, Sie müssen ihn finden! Er hat meine Tochter fast umgebracht. Ist Ihnen
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