Der Rote Tod
auch ruhig tun können. Unter der Kostümjacke aus dünnem Stoff trug sie ein helles Top, ohne einen Aufdruck auf der Vorderseite.
»Wenn du so viel gelesen hast, Hanna, dann brauche ich dich ja nicht viel zu fragen. Ich denke, du wirst mir der Reihe nach erzählen, was passiert ist, und uns auch erklären, wie der Blutfleck auf deine Stirn gekommen ist. Wir haben übrigens etwas von dem Blut genommen und lassen es untersuchen.«
»Es ist nicht mein Blut.«
»Ja, das stimmt, denn wir haben auf deiner Stirn keine Wunde entdeckt. Du hast sehr viel Glück gehabt, weißt du das?«
Hanna schob die Unterlippe vor. Sie wunderte sich über sich selbst, denn sie hatte sich wieder gefangen.
So schlimm die Erinnerung auch war, wenn sie jetzt näher darüber nachdachte, dann hatte sie nicht das Gefühl, vor einem Feind gestanden zu haben. Aber das wollte sie der Frau nicht sagen, und sie zuckte einfach mit den Schultern und sagte:
»Ja, ja, manchmal hat man eben Glück. Vielleicht war ich ihm nicht wichtig genug. Ich bin nur ein Kind.«
»Aber ein sehr waches.«
»Weiß nicht.«
»Und du bist allein in der Nacht unterwegs gewesen.«
»Stimmt.«
»Warum?«
»Es war ein so schönes Wetter.«
Frau Dorn lächelte. »Das kann ich alles verstehen. Gehst du öfter am Abend allein spazieren?«
»Nein, aber ich hatte Lust.«
»Und deine Eltern waren damit einverstanden? Kann ja sein, dass sie so denken. Immerhin bist du kein Kleinkind mehr, aber auch nicht in dem Alter, in dem man allein nächtliche Spaziergänge unternimmt. Das will ich dir auch ehrlich sagen.«
»Ich bin zwölf.«
Ulrike Dom wiegte den Kopf. »Eigentlich noch zu jung. Das hätte auch deine Mutter wissen müssen.«
»Sie weiß nichts davon. Ich bin aus dem Wohnmobil geschlichen und...«
»Ach, ihr lebt in einem Wohnwagen?«
»Wohnmobil.«
»Pardon. Deshalb also habt ihr keinen Festnetzanschluss. Und dein Vater heißt Richard Kohler. Zum Glück hat sich ein Kollege an den Namen erinnert. Dein Vater spielt Theater hier als Gast.«
»Ja, das ist so.«
Ulrike Dorn nickte vor sich hin. »Allmählich verstehe ich es. Oder verstehe es auch nicht. Aber du weißt schon, wie das Stück heißt, in dem er die Hauptrolle spielt?«
»Sicher. Der Mann, der seine Seele verkaufte. Die Leute sagen, dass es ein moderner Faust in Kurzfassung ist. Es dauert nur zwei Stunden, einschließlich der Pause.«
»Darüber sollte man sich Gedanken machen, Hanna.«
»Warum?«
»Dieser Mann in dem Stück hat die Seele an den Teufel verkauft, habe ich mir sagen lassen.«
»Ja, das ist wahr. Aber was hat das denn mit dem Roten Tod zu tun? Ist er der Teufel?«
Fast hätte Ulrike Dorn aufgelacht. Im letzten Moment riss sie sich zusammen. »Darauf kann ich dir keine Antwort geben«, sagte sie, »denn du bist es gewesen, die den Roten Tod gesehen hat, und somit bist du unsere einzige Zeugin.«
Hanna Kohler hatte schon begriffen, was die Frau meinte. Jetzt erwartete sie eine genaue Zeugenaussage, denn sie sah auch, dass das Mädchen einen seelisch recht stabilen Eindruck machte. Zudem schwankte sie zwischen Glauben und Aberglauben, denn der Rote Tod war bisher nur eine Legende gewesen.
»Wie sah er denn aus, Hanna?«
Das Mädchen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »So genau kann ich es nicht sagen.«
Ulrike Dorn verdrehte die Augen. »Aber er ist dir doch so nahe gewesen, hast du gesagt.«
»Das stimmt schon. Nur war es dunkel, sehr dunkel da unten am Kanal.«
Die Kriminalhauptkommissarin griff zu ihrer Kaffeetasse und führte sie an den Mund. Sie trank in kleinen Schlucken. Zwischendurch meinte sie:«Ja, ich verstehe schon, du hast also nicht viel von dieser Mordgestalt gesehen.«
»So ist es.«
Sie setzte die Tasse ab. »An was kannst du dich erinnern, Hanna? Etwas muss dir doch aufgefallen sein. In der ersten Panik hast du zugegeben, dass die Gestalt wie eingepackt ausgesehen hat. Stimmt das? Oder ist es deiner Fantasie entsprungen?«
»Nein, es stimmt. Die hat auch so ausgesehen. Richtig eingepackt in einen Umhang.«
»Hast du eine Waffe gesehen«
»Nein.«
»Also kein Messer oder einen anderen Stichgegenstand?«
Sie nickte.
Ulrike Dorn schaute auf den kleinen Recorder, der mitlief und das Gespräch aufzeichnete. Sie legte die Stirn in Falten und überlegte sich die nächste Frage. »Kannst du dir vorstellen, weshalb man dich verschont hat, Hanna?«
»Nein, das weiß ich nicht. Oder weil ich ein Kind bin. Noch nicht so alt wie der Tote?«
»Ja,
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