Der Rote Tod
mächtige Helfer, an die viele Menschen nicht glaubten. Hanna dachte anders darüber. Zuviel hatte sie gelesen. Sie glaubte zwar nicht unbedingt an eine Geisterwelt, doch sie wusste aus zahlreichen Büchern, das es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die man nicht so einfach ignorieren konnte. Das waren sowohl positive als auch negative Vorgänge.
In vielen Büchern hatte sie über Vorgänge gelesen, die sich die Menschen nicht erklären konnten. Unheimliche Dinge waren geschehen. Geister, Gespenster, Monster. Wesen der Nacht. Vampire und Werwölfe herrschten in der Dunkelheit, und unheimliche Hexen zogen im Hintergrund die Fäden. Über allem aber stand der Teufel und rieb sich die Hände.
Sie glaubte an den lieben Gott und damit an das Gute. Aber sie wusste auch, dass es Dualismus in der Welt gab. Wo Licht war, da gab es auch Schatten. Dieser Gegensatz, der sich in viele andere Beispiele aufteilen ließ, bestimmte praktisch ihr Leben.
Wie hatte ihr Vater des Öfteren gesagt? Jedes Ding hat zwei Seiten. Man darf nicht nur immer die eine sehen und muss sich auch die Argumente der anderen Seite anhören.
Für Hanna Kohler war das zum Motto geworden. Deshalb lachte sie einen anderen Menschen auch nie aus, auch wenn seine Meinung noch so ungewöhnlich war und er damit voll danebenlag. Diese Extreme gab es natürlich auch, denn wenn es wirklich eine Tatsache war, dann ließ sich daran nicht rütteln.
War der Rote Tod eine Tatsache?
War er ein Teil des großen Bösen, das sich davon abgegliedert hatte? Vom Teufel geschickt, um die Menschen auf die Probe zu stellen?
Hannas Gedanken drehten sich um diesen Komplex. Weil dies so war, kam erst keine Müdigkeit auf. Wenn sie sich jetzt hinlegte, würde sie nicht schlafen können, das wusste sie sehr gut. Sie wollte auch nicht im Wagen bleiben, denn sie hatte einfach das Gefühl, etwas zu verpassen. Hier im Wagen lauerte die Langeweile. Draußen aber herrschte das Leben, auch wenn es in der Dunkelheit zumeist verborgen war. Das Leben der anderen Seite, das eigentlich nur im Schutz der Nacht gedieh. Wenn sich die Geister befreiten, um durch die Finsternis zu eilen und sich erst wieder zurückzogen, wenn die Morgendämmerung anbrach.
Eine Mainacht.
Lind, mit wenig Wind. Noch von den Gerüchen des sterbenden Frühlings gefüllt und trotzdem von den ersten Atemstößen des Sommers durchdrungen. Ja, das war eine Nacht, in der die Menschen nicht schlafen konnten, zumindest viele nicht. Weil einfach etwas in der Luft lag, das sie wohl spürten, aber nicht erklären konnten.
Hanna Kohler kannte dies auch. Es war der Griff aus der anderen Welt. Der Hauch, den auch die Menschen spürten, sich aber nicht erklären konnten und deshalb von einer inneren Unruhe geleitet wurden.
Nicht aber Gertrud Kohler. Sie war etwas Besonderes. Sie lag in ihrem Bett und schlief tief und fest, wie Hanna erkannte, als sie die Tür geöffnet hatte. Das Licht brauchte sie im hinteren Teil des Wagens nicht einzuschalten, die Gestalt der Schlafenden zeichnete sich auch so ab. Und die hörte die ruhigen Atemzüge, die sie zu einem ebenfalls ruhigen Lächeln verleiteten.
Das Mädchen zog die Tür wieder zu. Sanft schnappte sie ein. Die Luft war rein. Ihre Mutter würde nicht merken, wenn sie den Wagen verließ.
Die Tür war abgeschlossen, aber Hanna wusste, wo sie den Schlüssel finden konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fand unter der Decke eine schmale Leiste. Dort lag der Schlüssel versteckt. Hanna schloss auf, verließ das große Fahrzeug, aber sie schloss hinter sich nicht ab. Sollte im Wagen irgendetwas passieren, dann musste die Tür einfach offen sein, damit ihre Mutter flüchten konnte. Das auch Diebe in das Wohnmobil eindringen konnten, nahm sie in Kauf. So lange das Wohnmobil hier stand, war nicht einmal versucht worden, einzubrechen, und sie hoffte, dass das so blieb.
Hanna stand in der Nacht.
An diesem Ort etwas außerhalb der City war es still. Bäume standen wie dunkle Gebilde in der Nähe und schienen mit ihrem Laub auch noch die leisesten Geräusche zu filtern.
Göttingen ist eine Universitätsstadt. Das merkte man auch in den lauen Nächten, die sehr lang wurden, denn da saßen Studenten oft weit bis in die frühen Morgenstunden vor den zahlreichen Kneipen zusammen und diskutierten, feierten oder flanierten durch die manchmal recht engen Straßen, vorbei an den oft historischen Häusern mit den Schildern bekannter Wissenschaftler oder Dichter an den Wänden, die mal
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