Der Rubin der Oger
den spakigen Stoffgürtel zu durchtrennen. Als er es endlich geschafft hatte, sich aus der Umklammerung des Stuhls zu befreien, rutschte ihm die Hose auf die Knie und brachte ihn zu Fall. Sein Messer glitt ihm aus der Hand und rutsche quer über den Fußboden direkt vor das Paar Schuhe. Hagrim hob den Blick und schaute in das mitleidig wirkende Gesicht eines Elfen.
»Ich wusste, Ihr würdet kommen, um mich zum Schweigen zu bringen«, lallte der alte Geschichtenerzähler.
Der Elf ging in die Hocke und hob den Dolch auf. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er Hagrim die Waffe mit dem Griff voran entgegen. Hagrim nahm den Dolch und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Mit der blitzenden Klinge des Dolches fuchtelte er vor der Nase seines Gegenübers herum. Mit der anderen Hand hielt er seinen Hosenbund fest.
»Ich habe gesehen, was Ihr mit dem Stallmeister gemacht habt. Sie werden Euch nicht wieder lebendig aus der Stadt lassen, dafür werde ich sorgen«, drohte er.
»Du hättest ihm die Waffe nicht zurückgeben sollen, Lodjodran-Thee«, erklang eine melodische Stimme hinter Hagrim. »Er ist zu betrunken, um zu wissen, was er tut. Ich fürchte, er wird sich mit dem alten Stilett noch selbst verletzten.«
Hagrim musste sich beherrschen, um nicht herumzuwirbeln. Er mochte vielleicht betrunken sein und nicht wirklich kampfbereit, aber auf solch billige Tricks, mit denen man ihn entwaffnen wollte, würde er nicht hereinfallen.
»Ihr findet Euch wohl besonders schlau. Glaubt nicht, dass Ihr mich so einfach fertigmachen könnt. Einen von Euch werde ich noch mit ins Jenseits nehmen, glaubt mir«, stammelte er.
Der Elf, der Lodjodran-Thee genannt wurde, griff in einen kleinen Lederbeutel und zupfte einige bräunliche, getrocknete Pflanzenreste heraus, die er vorsichtig vor Hagrim auf den Boden legte. Dann zeigte er auf die Kräuter und bedeutete Hagrim, sie sich unter die Zunge zu legen.
»Ha, wieder eins von Euren perfli ... pferfmi ... bösartigen Spielchen? Das käme Euch wohl gerade recht, wenn ich mich selbst vergifte. Dann hättet Ihr alle Zeugen beseitigt. Aber nicht mit mir, Freunde.«
Der Elf versuchte, den betrunkenen Geschichtenerzähler mit einer besänftigenden Handbewegung zu beruhigen.
»Wir sind nicht gekommen, um Euch irgendetwas anzutun. Wir sind auf Eure Hilfe angewiesen.«
»Ihr glaubt wohl, Ihr könnt mich mit Euren süßen Worten und Eurem Gehabe einlullen. Da müsst Ihr aber früher aufstehen.«
Hagrim spürte, wie der Elf hinter ihm einen Schritt auf ihn zukam.
»Offensichtlich hast du es schon selbst geschafft, deinen Geist einzulullen, mein Freund. Die Gabe, die dir gegeben wurde, hast du im Saft der Trauben ertränkt. Du bist nichts weiter als eine Zumutung für alle, die mit dir Umgang pflegen. Vielleicht solltest du dich eines Besseren belehren lassen und den Schleier von deinen Augen und deinem Geist nehmen, damit du wieder etwas Selbstachtung und Erkenntnis erlangst.«
Die Worte allein hätten Hagrim nicht aus der Fassung gebracht, doch zusammen mit ihnen zerrte etwas Unsichtbares, Ungreifbares an seinem Gemüt. Das Wort Freund schwirrte durch seinen Geist und hallte mit jedem Gedanken in seinem Kopf wider. Er spürte ein seltsames Vertrauen in sich aufsteigen und hatte das Gefühl, bei den Elfen geborgen und in Sicherheit zu sein. Tränen traten in seine Augen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht vor seinen Peinigern loszuheulen. Wortlos griff er nach den getrockneten Blättern und schob sie sich in den Mund. Der bittere Geschmack löste eine leichte Übelkeit aus. Schon nach wenigen Sekunden stellte sich die erste Wirkung des unbekannten Krauts ein. Hagrim bekam Schweißausbrüche, und seine Augenlider begannen unkontrolliert zu blinzeln. Die Wirkung des Alkohols schwand innerhalb von Minuten, nachdem Hagrim sich auf den Boden gesetzt hatte und in tiefes Schweigen verfallen war. Einzig die Kopfschmerzen, die sich anstatt am nächsten Morgen schon jetzt eingestellt hatten, blieben zurück.
Hagrim konnte und wollte nicht sprechen. Er wusste, dass sie Recht hatten. Ein einfaches Nicken musste reichen, um ihnen zu zeigen, dass er verstanden hatte und nun bereit war.
»Freund Hagrim, hört mir gut zu! In den Mauern Osbergs habt Ihr denen, die Ihr Oger nennt, Unterschlupf gewährt. Wir müssen zu ihnen gelangen und mit ihnen sprechen«, sagte Lodjodran-Thee.
Das Wort Freund löste wieder eine Woge wohliger Gefühle in ihm aus. Er musste antworten, egal ob er wollte oder
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