Der Rubin der Oger
Um sie herum bildete sich ein geschlossener Kreis aus prügelnden Raufbolden. In kürzester Zeit ging mehr Mobiliar und Geschirr zu Bruch, als ein Erdbeben hätte vernichten können. Der Schankraum glich einem Schlachtfeld.
Cindiel konnte ihren Blick kaum von den Zwergen lösen. Es war nur eine Kneipenschlägerei, dennoch war es beeindruckend mit anzusehen, wie jemand dabei Format bewies.
Doch dann wurde ihr Blick wie magisch von einem Mann angezogen, der auf einem der Fenstersimse hockte. Zwei Dinge erregten ihre Aufmerksamkeit: die Tatsache, dass er der einzige Gast war, der sich aus allem heraushielt, und dass sein Blick unverwandt auf ihr ruhte. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, stand er auf und kam auf sie zu. Jeder seiner Schritte durch den Tumult wirkte gelassen. Selbst als er einen heranfliegenden Krug mit dem Unterarm abwehren und sich unter einem Schlag mit einem Stuhlbein wegducken musste, behielt er die Ruhe. Die wildesten Schläger schienen ihn gar nicht wahrzunehmen. Er durchquerte den Schankraum, ohne einen einzigen Treffer abzubekommen, und öffnete ruhig die Tür zur Küche.
Cindiel eilte schnell zu ihrem Waschbottich und begann, wieder Gläser zu schrubben. Der Fremde schloss die Tür und beobachtete sie. Erst jetzt fiel ihr auf, wie absurd es wirken musste, in aller Seelenruhe einer Arbeit nachzugehen, während im Nebenraum eine Schlacht tobte. Sie ließ das schmutzige Geschirr in den Bottich gleiten und blickte auf.
Das Gesicht des Mannes schien ihr vertraut, doch wollte ihr nicht einfallen, woher sie es kannte.
»Gäste dürfen nicht in die Küche«, sagte sie, und sofort war ihr klar, wie einfältig dieser Protest angesichts der Schlägerei nebenan klang.
»Dein Gedächtnis ist genauso schlecht wie das deiner großen Freunde«, sagte der Mann.
»Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«, fragte sie barsch.
»Ich bin Haran, und wir haben uns vor Jahren schon einmal in Lorast getroffen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich damals etwas derangiert gewirkt haben muss.«
Allmählich kehrte Cindiels Erinnerung zurück. Er war der Mann im Käfig gewesen. Ein Vertrauter von Lord Felton, der ihnen damals den Weg zu König Wigold gewiesen und sie ermutigt hatte, den König zu entführen, um ihn von ihrem Vorgehen zu überzeugen.
»Haran«, wiederholte sie seinen Namen langsam. »Ich hatte Euch schon fast vergessen.«
Er setzte ein zufriedenes Lächeln auf. »Ein Umstand, den ich normalerweise zu schätzen weiß.«
»Seid Ihr der, den ich hier treffen soll?«, fragte Cindiel unsicher.
»So ist es«, bestätigte Haran. »Libriandus und ich verfolgen die gleichen Ziele. Leider fehlt mir die Zeit, dich in unsere Pläne einzuweihen. Daher muss es reichen, dass du tust, was wir von dir verlangen.«
Für Cindiel klang das weder nach einem guten Ratschlag noch nach einer Bitte. Er wollte Anweisungen erteilen, und sie sollte diese befolgen, gehorsam wie eine Dienstmagd? So leicht würde sie es ihm nicht machen. Sie hatte ebenfalls Pläne. Ohne eine Gegenleistung für ihr Einverständnis konnte er sich wieder dorthinscheren, wo er herkam.
»Habt Ihr Mogda gesehen?«, fragte sie.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht leicht zu überzeugen sein wirst. Dir liegt viel an den Ogern, stimmt’s?«
Cindiel beantwortete die Frage nicht, sondern starrte ihn weiter an. Ihr Blick war herausfordernd.
»Nein, ich habe Mogda nicht gesehen«, gestand Haran. »Aber ich habe gehört, dass er morgen bei der Krönung von Lord Sigurt die Hauptattraktion sein wird.«
»Das kann ich nicht zulassen«, fauchte Cindiel. »Ich werde ihn dort herausholen.«
»Du tust nichts dergleichen«, sagte Haran in eisigem Tonfall, von dem Cindiel annahm, dass er das Letzte war, das einigen Menschen in ihrem Leben aufgefallen war.
»Wenn du hingegen tust, was ich dir sage, wird dem Oger nichts geschehen. Aber es ist wichtig, dass du die Ruhe bewahrst. Hast du das verstanden?«
Diese einfachen Worte genügten, Cindiel auf seine Seite zu bringen. Sie wusste, welche Aufgaben er für Lord Felton erledigte. Er würde keinen Moment zögern, sie zu töten, wenn sie ihm lästig werden sollte. Sie wusste aber auch, dass Haran es nicht nötig hatte, sie zu belügen. Ihr blieb nicht anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Also nickte sie gequält.
Haran zog eine handgroße Phiole aus seinem Cape hervor und stellte sie auf den Tisch. Das kleine Gefäß war aus dunklem Rauchquarz mit passendem Verschluss. Eingefasst wurde es von einem
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