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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Weinen aufzuhören. Sie stieß die Bettlaken, die
sie fast erstickten, zurück; die kalte Nachtluft löste einen Schüttelfrost
bei ihr aus. Sie deckte sich erst wieder zu, als dadurch die Hitze des
Alptraums abgeflaut war, aber einschlafen konnte sie noch lange
nicht.
Am nächsten Morgen kam ein weiterer Brief. Sobald das Frühstück
vorbei war, entwischte sie Mrs. Rees und öffnete den Brief in ihrem
Schlafzimmer. Er war von ihrem Rechtsanwalt weitergeschickt
worden wie der letzte auch, aber die Briefmarke war diesmal britisch,
und der Handschrift sah man an, daß sie von einer gebildeten Person
stammte. Sie nahm das einzelne, billige Blatt Papier heraus -- und
setzte sich abrupt auf.
    Foreland House 10. Oktober 1872
Swaleness Kent
Liebe Miss Lockhart,
wir sind uns nie begegnet -- Sie haben meinen Namen noch nie
    gehört -- und nur die Tatsache, daß ich vor vielen Jahren Ihren Vater
gut kannte, erklärt, daß ich Ihnen schreibe. Ich las in der Zeitung von
dem unglücklichen Vorfall in Cheapside, und ich habe mich erinnert,
daß Mr. Temple von Lincolns Inn der Anwalt Ihres Vaters war. Ich bin
zuversichtlich, daß dieser Brief Sie erreichen wird. Wie ich erfahren
habe, weilt Ihr Vater nicht mehr unter uns; ich darf Ihnen mein
aufrichtiges Beileid aussprechen. Aber die Tatsache seines Todes und
gewisse Umstände in meinen eigenen Angelegenheiten in letzter Zeit
geben mir den Anlaß, mich in einer dringenden Sache an Sie zu
wenden. Im Augenblick kann ich Ihnen nur folgende drei Fakten
mitteilen: 1. Die Niederlage von Lucknow ist von Bedeutung, 2. ein
Gegenstand von unschätzbarem Wert spielt eine Rolle, und schließlich
ist Ihre persönliche Sicherheit einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt.
    Ich möchte Sie herzlich bitten, Miss Lockhart, diese Warnung zu
beherzigen. Um der Freundschaft zu Ihrem Vater willen
-- aus
Rücksicht auf Ihr eigenes Leben -- kommen Sie so schnell wie möglich
und hören Sie sich an, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Es gibt
Gründe, warum ich nicht zu Ihnen kommen kann. Erlauben Sie mir,
als der zu unterzeichnen, der ich mein ganzes Leben lang war,
nämlich
Ihr guter Freund
George Marchbanks
    Maßlos überrascht las Sally den Brief zweimal. Wenn ihr Vater und
Mr. Marchbanks Freunde gewesen waren, warum hatte sie dann
seinen Namen nie gehört, bis der Brief aus dem Fernen Osten eintraf?
Und worin bestand diese Gefahr?
    Die sieben Wohltaten...
Natürlich! Er wußte offenbar, was ihr Vater entdeckt hatte.
Ihr Vater hatte ihm geschrieben, da er wußte, daß ein Brief dort gut
aufgehoben war.
     
Ein wenig Geld hatte sie in ihrem Geldbeutel. Sie zog ihren Mantel
an, ging ruhig nach unten und verließ das Haus.
    Sie saß im Zug und kam sich vor, als sei sie auf einem Feldzug. Sie
war überzeugt, daß ihr Vater alles kühl geplant hätte; das Abhören von
Gesprächen, das Überwachen von Hauptquartieren, das Anknüpfen
von Verbindungen, das war jetzt ihre Aufgabe.
    Mr. Marchbanks behauptete, ein Verbündeter zu sein. Zumindest
hatte er ihr etwas mitzuteilen; nichts war schlimmer, als die
Bedrohung nicht zu kennen, die über einem schwebte... Sie
beobachtete, wie die grauen Randgebiete der Stadt in die graue
Landschaft übergingen, und starrte auf das Meer zu ihrer Linken. Es
waren nie weniger als fünf oder sechs Schiffe zu sehen, die -- von
einem frischen Ostwind getrieben
-- die Themsemündung
hinauffuhren oder im Gegenwind kraftvoll flußabwärts dampften.
    Die Stadt Swaleness war nicht sehr groß. Sie beschloß, keine
Droschke vom Bahnhof aus zu nehmen, sondern ihr Geld zu sparen
und zu Fuß zu gehen, nachdem sie vom Gepäckträger erfahren hatte,
daß Foreland House nur einen Sprung weit weg war -- nicht mehr als
eine Meile: zuerst an der Küste entlang, und dann sollte sie den Pfad
am Fluß nehmen, sagte er. Sie machte sich sofort auf den Weg. Die
Stadt wirkte trostlos und kalt; der Fluß war ein schlammiger Bach, der
sich zwischen Salztonebenen dahinschlängelte, bevor er jene graue
Region erreichte, die Meer hieß. Es war gerade Ebbe, die Szene war
trist, nur ein einziges menschliches Wesen war zu sehen.
    Und das war ein Photograph. Mitten auf dem engen Pfad neben dem
Fluß hatte er seine Kamera aufgebaut, zusammen mit einer kleinen
tragbaren Dunkelkammer, wie sie alle Photographen in jenen Tagen
benutzen mußten. Der junge Mann sah sympathisch aus, und da sie
nirgends eine Spur von einer Landspitze entdecken konnte, ganz zu
schweigen von einem

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