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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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bemerkte einen verzweifelt unglücklichen Ausdruck auf seinem
Gesicht. Es war der Gesichtsausdruck eines Mannes, der völlig ohne
Hoffnung ist, und es erfüllte sie mit Angst. Ihr einziger Gedanke war
der Brief aus dem Fernen Osten.
„Haben Sie mal in Chatham gelebt?" fragte sie.
„Ja, vor langer Zeit. Aber bitte -- wir haben keine Zeit. Nehmen Sie
das - "
Er öffnete eine Schublade des Tisches und nahm ein Päckchen
heraus, das in braunes Papier gewickelt war. Es war etwa fünfzehn
Zentimeter lang und mit Schnur und Siegellack versiegelt.
„Das wird Ihnen alles erklären. Da er Ihnen nichts darüber gesagt
hat, sollte ich vielleicht auch nicht... Sie werden einen Schock
bekommen, wenn Sie das lesen. Darauf müssen Sie sich gefaßt
machen. Auch wenn Sie nichts davon geahnt haben, so ist Ihr Leben
wirklich in Gefahr, aber wenn Sie es gelesen haben, wissen Sie
wenigstens warum."
Sie nahm das Päckchen an sich. Ihre Hände zitterten heftig; er sah
es, und in einer seltsamen Anwandlung nahm er sie in die seinigen
und neigte seinen Kopf darüber.
Dann ging eine Tür auf.
Er zuckte zurück und wurde bleich; eine Frau in mittleren Jahren
schaute zur Tür herein.
„Herr Major -- sie treibt sich in der Nähe rum, Sir", sagte sie. „Im
Garten."
Sie sah genauso unglücklich aus wie er und roch stark nach
Alkohol. Major Marchbanks winkte Sally, ihm zu folgen. „Hier, durch
die Tür. Danke, Mrs. Thorpe. Schnell jetzt..."
Die Frau machte unbeholfen Platz und setzte ein schiefes Lächeln
auf, als Sally sich an ihr vorbeizwängte. Der Major führte sie rasch
durchs Haus; sie nahm leere Räume wahr, kahle Böden, das Echo
ihrer Schritte, Feuchtigkeit und Elend. Seine Angst wirkte ansteckend.
„Wer ist denn dieser Feind?" fragte sie, als sie zur Haustür kamen.
„Ich weiß überhaupt nichts! Sagen Sie mir wenigstens ihren Namen "
„Sie heißt Mrs. Holland", flüsterte er und öffnete die Tür einen
Spalt. Er spähte hindurch. „Bitte -- ich bitte Sie inständig -- gehen Sie
jetzt. Sind Sie zu Fuß da? Sie sind jung, stark und schnell -- beeilen
Sie sich. Gehen Sie direkt in die Stadt. Ach, es tut mir so leid...
verzeihen Sie mir. Verzeihen Sie mir."
Diese letzten Worte hatte er äußerst eindringlich gesagt, ein
Schluchzen hatte sich in seine Stimme gestohlen. Sie befand sich jetzt
draußen, und er schloß die Tür. Kaum zehn Minuten war sie da
gewesen. Sally schaute an der kahlen Hauswand hinauf, die an
manchen Stellen abbröckelte, und dachte: Ob der Feind mich wohl
beobachtet? Sie ging die von Unkraut überwucherte Auffahrt hinunter,
an dem dunklen Wäldchen vorbei und gelangte wieder auf den Weg
am Fluß. Es war gerade Flut; träge schwappte das Wasser an das
schlammige Ufer. Leider war von dem Photographen weit und breit
keine Spur zu sehen. Die Landschaft war völlig kahl.
Sie eilte weiter, das Päckchen in ihrer Tasche machte sie unruhig.
Auf halbem Wege blieb sie am Flußufer stehen und schaute zurück.
Was sie veranlaßt hatte, sich umzudrehen, wußte sie nicht, aber auf
jeden Fall sah sie jetzt eine kleine Gestalt von den Bäumen
herkommen -- eine schwarzgekleidete Frau. Eine alte Frau. Sie war zu
weit weg, um sie richtig erkennen zu können, aber sie war auf jeden
Fall hinter Sally her. Ihre zielbewußte, kleine schwarze Gestalt war
das einzig Lebendige in dieser ganzen grauen Ode.
Sally hastete weiter bis zur Hauptstraße, wo sie sich wieder
umdrehte. Es war, als würde die kleine, schwarze Gestalt mit der Flut
hereingeschwemmt; sie war jetzt nicht mehr so weit zurück und schien
sogar aufzuholen. Wo konnte Sally sich verstecken?
Die Straße zur Stadt führte in einer leichten Biegung vom Meer
weg, und sie überlegte, ob sie wohl eine Seitenstraße benutzen sollte,
während sie außer Sichtweite war, dann könnte sie --
Da entdeckte sie etwas Besseres. Der Photograph stand neben
seinem kleinen Zelt am Strand und untersuchte irgendein Gerät. Sie
schaute zurück -- die kleine, schwarze Gestalt war durch eine aufs
Meer hinausgehende Häuserreihe verdeckt. Sie rannte zu dem
Photographen, der erstaunt aufschaute und dann erfreut grinste.
„Ah, Sie sind's", sagte er.
„Bitte, können Sie mir helfen?"
„Klar doch. Mit Vergnügen. Was kann ich für Sie tun?"
„Ich werde verfolgt. Die alte Frau da -- sie ist hinter mir her. Sie ist
gefährlich. Ich weiß nicht, was ich machen soll."
Seine Augen funkelten fröhlich. „Rein ins Zelt", sagte er und hob
die Zeltplane hoch.

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