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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Haus, beschloß sie, ihn nach dem Weg zu
fragen.
    „Sie sind schon die zweite, die in dieser Richtung an mir
vorbeigegangen ist", sagte er. „Das Haus ist dort drüben -- es ist lang
und niedrig." Er zeigte auf ein Wäldchen mit verkümmerten Bäumen,
eine halbe Meile entfernt.
    „Wer war die andere Person?" fragte Sally.
„Eine alte Frau, die wie eine der Hexen aus ,Macbeth' ausgesehen
hat", sagte er. Diese Anspielung ging bei Sally ins Leere; da er ihre
Verwirrung bemerkte, erklärte er: „Runzlig, wissen Sie, und häßlich
und so fort."
    „Ach so", sagte sie.
„Meine Visitenkarte", sagte der junge Mann. Wie ein Zauberer
produzierte er aus dem Nichts ein weißes Kärtchen Pappe: „Frederick
Garland, Photograph" stand darauf, mit einer Adresse in London. Sie
    sah ihn noch einmal an und mochte ihn; sein Gesicht war humorvoll,
sein strohblondes Haar steif und zerzaust, sein Gesichtsausdruck wach
und intelligent.
„Entschuldigen Sie, aber was fotografieren Sie eigentlich?"
„Die Landschaft", antwortete er. „Macht nicht viel her, was?
    Wissen Sie, ich wollte so was Trostloses. Ich experimentiere mit einer
neuen Kombination von Chemikalien. Ich hab so die Idee, daß die
empfindlicher ist als das gewöhnliche Zeug, und daß die Art von
Beleuchtung dabei besser rauskommt."
    „Kollodium", bemerkte sie.
„Sehr richtig. Sie sind Photograph?"
„Nein, aber mein Vater hat sich dafür interessiert... Ich muß
übrigens weiter. Danke, Mr. Garland."
    Er lächelte fröhlich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der
Kamera zu. Der Pfad machte eine Kurve am schlammigen Ufer des
Flusses entlang und ließ sie schließlich hinter dem Wäldchen
herauskommen. Wie der Photograph es beschrieben hatte, befand sich
dort das Haus -- der Stuck blätterte ab, vom Dach fehlten mehrere
Ziegel, und auch der Garten war verwildert und vernachlässigt. Noch
nie hatte sie so ein tristes Anwesen gesehen. Sie fröstelte le icht.
    Gerade betrat sie die kleine Veranda und wollte klingeln, als die Tür
aufgemacht wurde und ein Mann herauskam. Er legte den Finger auf
die Lippen und schloß die Tür ganz sachte, um kein Geräusch zu
machen.
„Bitte", flüsterte er. „Kein Wort. Hierherum, schnell..."
    Sally folgte erstaunt; er führte sie rasch seitlich am Haus entlang zu
einer kleinen, glasbedeckten Veranda. Er schloß die Tür hinter ihr,
horchte angestrengt und streckte dann die Hand aus.
„Miss Lockhart", sagte er. „Ich bin Major Marchbanks."
    Sie schüttelte ihm die Hand. Er mußte etwa sechzig Jahre alt sein;
seine Gesichtsfarbe war fahl, seine Kleider schlotterten an ihm. Er
hatte dunkle, schöne Augen, die aber tief in den Höhlen lagen.
Seltsamerweise klang seine Stimme ihr vertraut, aber er sah so
grimmig aus, daß sie sich ängstigte, bis ihr klar wurde, daß auch er
Angst hatte: sehr viel mehr als sie selbst.
    „Ihren Brief hab ich heute morgen bekommen", sagte sie. „Hat
mein Vater Ihnen geschrieben und Sie gebeten, mich zu treffen?"
„Nein...", seine Stimme klang erstaunt.
„Sagt Ihnen der Ausdruck ,Die sieben Wohltaten' etwas?"
Die Wirkung war gleich null. Major Marchbanks schaute
verständnislos drein. „Es tut mir leid", sagte er. „Sind Sie
hergekommen, um mich das zu fragen? Es tut mir wirklich leid. Hat er
-- Ihr Vater - "
Sie berichtete ihm rasch von der letzten Seereise ihres Vaters, von
dem Brief aus dem Osten und dem Tod von Mr. Higgs. Er legte die
Hand auf die Stirn und machte einen äußerst niedergeschlagenen und
verwirrten Eindruck. Auf der Veranda stand ein kleiner Tisch aus
Kiefernholz und an der Tür ein Stuhl. Er bot ihr den Stuhl an und
sprach dann mit leiser Stimme.
    „Ich habe einen Feind, Miss Lockhart, und dieser Feind ist jetzt
auch der Ihrige. Sie -- es ist eine Frau -- ist sehr böse. Sie befindet sich
im Augenblick in diesem Haus, deshalb müssen wir uns hier draußen
verstecken, und deshalb müssen Sie auch gleich wieder gehen. Ihr
Vater - "
    „Aber warum denn? Was hab ich ihr getan? Wer ist sie?"
„Bitte -- ich kann es jetzt nicht erklären. Aber ich tu's noch, da
können Sie sicher sein. Ich weiß nichts über den Tod Ihres Vaters --
nichts über die ,Sieben Wohltaten' und nichts vom Südchinesischen
Meer, nichts vom Handel zur See. Er konnte von dem Bösen, das
mich in seinen Fängen hat, nichts wissen und das jetzt... Ich kann
Ihnen nicht helfen. Ich kann nichts tun. Er hat wieder einmal sein
Vertrauen auf den Falschen gesetzt."
„Wieder?"
Sie

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