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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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auf sie hinab: leidenschaftlich, mit
dunklem Schnurrbart, funkelnden Augen und einem Blutrinnsal auf
der Backe. Plötzlich erfaßte sie panische Angst. Sie war verrückt vor
Angst. Ich sterbe, dachte sie -- niemand kann so Angst haben, ohne zu
sterben oder verrückt zu werden... Sie spürte einen heftigen Schlag
auf der Wange. Das Geräusch hörte sie erst eine Sekunde später, alles
war aus den Fugen, und überall herrschte wieder Dunkelheit. Sie
versank in nackter Verzweiflung
Und dann war sie wach: auf den Knien, mit tränenüberströmtem
Gesicht. Frederick kniete neben ihr; ohne nachzudenken schlang sie
die Arme um seinen Hals und schluchzte. Er hielt sie fest an sich
gepreßt und sagte nichts. Sie waren in dem Vorraum: Wann waren sie
herausgekommen? Madame Chang stand etwas entfernt da und
beobachtete sie intensiv. Als sie sah, daß Sally wieder bei Bewußtsein
war, kam die Chinesin heran und verbeugte sich.
„Bitte setzen Sie sich auf den Diwan, Miss Lockhart. Li Ching wird
eine Erfrischung bringen."
Sie klatschte in die Hände. Frederick half ihr, sich auf den
seidenbezogenen Diwan zu setzen, und der alte Diener bot ihr eine
kleine Porzellantasse mit einem heißen, wohlriechenden Getränk an.
Sie nippte daran und spürte, daß sie wieder einen klaren Kopf hatte.
„Was ist passiert? Wie lange war ich - "
„Der Rauch hat dich schwindlig gemacht", sagte Frederick. „Du
hast wahrscheinlich mehr eingeatmet, als du gedacht hast. Aber daß
man so schnell völlig weg ist -- ist das nicht sehr ungewöhnlich,
Madame Chang?"
„Dies ist nicht ihre erste Begegnung mit dem Rauch", meinte die
Dame, die immer noch regungslos im Dunkeln stand.
„Aber ich hab noch nie im Leben Opium geraucht!" sagte Sally.
„Es tut mir leid, daß ich Ihnen widersprechen muß, Miss Lockhart.
Aber Sie haben den Rauch schon zuvor eingeatmet. Ich habe
Tausende gesehen, die den Rauch eingeatmet haben, ich weiß
Bescheid. Was haben Sie in Ihrem Traumbild gesehen?"
„Eine Szene, die -- die ich immer wieder sehe. Ein Alptraum. Ein
Mann wird getötet und... Und dann kommen zwei andere Männer
und... Was kann es bedeuten, Madame Chang? Werde ich verrückt?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Die Macht des Rauches ist grenzenlos. Er verbirgt Geheimnisse
der Vergangenheit so gut, daß nicht einmal die schärfsten Augen im
hellsten Tageslicht sie entdecken würden; und dann enthüllt er alles
wie einen verborgenen Schatz, was der Vergessenheit anheimfiel. Was
Sie gesehen haben, ist eine Erinnerung, Miss Lockhart, kein Traum."
„Wie können Sie so sicher sein, daß es nicht Phantasie ist?" fragte
Frederick. „Glauben Sie wirklich, daß Sally schon früher einmal unter
dem Einfluß von Opium war, und daß dieser Alptraum eine
Erinnerung an die Zeit ist, zu der es geschah? Ist es möglich, daß es
doch nicht mehr als ein Traum ist?"
„Es ist möglich, Mr. Garland. Aber es hat sich nicht so zugetragen.
Ich kann deutlich sehen, was für Sie unsichtbar ist, geradeso wie ein
Arzt deutlich sehen kann, was seinem Patienten fehlt. Es gibt
unzählige Anzeichen dafür, wie diese Dinge zu deuten sind, aber wer
sie nicht deuten kann, erfährt auch nichts."
Ihre bewegungslose Gestalt sprach aus dem Dämmerlicht wie die
Priesterin eines alten Kults, voller Autorität und Weisheit. Sally hatte
das Bedürfnis, wieder zu weinen. Sie stand auf.
„Vielen Dank für Ihre Erläuterungen, Madame Chang", sagte sie.
„Bin ich... bin ich in Gefahr, süchtig zu werden? Wenn ich sie jetzt
einmal genommen habe, werde ich wieder danach verlangen?"
„Sie haben Sie schon zweimal genommen, Miss Lockhart", sagte
die Dame. „Falls Sie in Gefahr sein sollten, dann nicht von der Droge.
Aber der Rauch gehört jetzt zu Ihnen. Er hat etwas enthüllt, was Sie
nicht wußten, vielleicht verlangen Sie nach dem Rauch nicht um
seiner selbst willen, sondern weil er Ihnen etwas zeigen kann."
Sie verneigte sich, und Frederick stand auf, um zu gehen. Sally, die
sich immer noch benommen fühlte, nahm den Arm, den er ihr anbot,
und nachdem sie sich verabschiedet hatten, gingen sie.
Draußen war es schon fast dunkel. Die kalte Luft war eine Wohltat
für Sally, die sie dankbar einatmete. Das Pochen in ihrem Kopf ließ
nach. Bald waren sie in der Commercial Road, und die Hektik des
Verkehrs, die Gaslaternen, die hellen Schaufenster ließen die
Opiumhöhle selbst wie einen Traum erscheinen. Aber sie zitterte
immer noch, und ihr Körper war in Schweiß

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