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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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alten Tweedmantel und Kordsamthosen
und keinen Klerikerkragen. Tatsache war, daß er gar keinen Kragen
besaß, und rasiert war er auch nicht; die Verwandlung vom sanften
Vikar in einen finsteren Bösewicht war so gelungen, daß Sally ihn fast
gefragt hätte, ob er in einem Spiel für die stereographischen
Aufnahmen mitspiele.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung", sagte er. „Das sind kaum
die richtigen Kleider, um einen Besuch abzustatten. Mein Talar
befindet sich in einem Handkoffer in der Gepäckaufbewahrung in
Paddington. Ich hoffe nur, daß ich auf dem Rückweg ein leeres Abteil
finde -- ich kann kaum so, wie ich bin, ins Pfarrhaus zurückkehren..."
Rosa kam herein, wurde vorgestellt und lud ihn sofort ein, zum
Mittagessen zu bleiben. Er sah sie und nahm sofort an. Bald saßen sie
alle, und während sie Brot, Käse und Suppe aßen -- Rosa hatte alles
gebracht -- erklärte er seine Pläne.
„Ich werde eine Droschke zum Hangmans Kai nehmen, pack ihn
beim Schlafittchen und ab mit ihm. Er wird keinen Widerstand leisten,
anders als vielleicht Mrs. Holland... auf jeden Fall bring ich ihn
hierher, wenn ich darf, so daß Miss Lockhart erfahren kann, was er zu
sagen hat, und dann fahren wir zurück nach Oxford."
„Ich komme mit", sagte Sally.
„Nein, das tun Sie nicht", sagte er. „Er ist in Gefahr, und Sie wären
auch in Gefahr, wenn Sie dieser Frau nahe kommen."
„Ich komme mit", sagte Frederick.
„Prima. Können Sie boxen?"
„Nein, aber ich hab in der Schule Fechten gehabt. Glauben Sie, daß
es 'ne Schlägerei gibt?"
„Deshalb hab ich mich so angezogen. Es ist etwas peinlich, wenn
man als Geistlicher anfängt, die Fäuste zu schwingen. Tatsache ist, ich
weiß nicht, was uns erwartet."
„Bei der Sammlung ist auch ein kurzer Säbel", sagte Rosa. „Wollt
ihr den nehmen? Und vielleicht sollte ich dich als Seeräuber
ausstaffieren, Fred, 'ne Augenbinde über einem Auge und 'n dicken,
schwarzen Schnurrbart
-- und ihr könnt beide in unserem Spiel
auftreten."
„Ich geh so, wie ich bin", beschloß Frederick. „Wenn ich einen
Schnurrbart will, dann laß ich mir einen wachsen."
„Sie sind wirklich eineiige Zwillinge?" fragte Rosa. „Ich hab schon
eineiige Zwillinge erlebt, aber die waren furchtbar enttäuschend."
„Wir sind überhaupt nicht zu unterscheiden, Miss Garland.
Abgesehen vom Opium, und wer weiß? Wenn ich so wie er in
Versuchung geraten wäre, dann war ich ihr vielleicht auch erlegen.
Aber wieviel Uhr ist es denn? Wir müssen aufbrechen. Vielen Dank
für das Mittagessen. Wir kommen wieder... irgendwann!"
Frederick und er gingen, und Rosa saß eine Weile gedankenverloren
da.
„Eineiige Zwillinge", sagte sie. „Was für 'ne Chance... Du liebe
Zeit! Stimmt die Uhr wirklich? Ich komm zu spät -- Mr. Toole wird
'ne ganz schöne Wut haben..."
Mr. Toole war der Regisseur, mit dem sie probte, und offensichtlich
ein Verfechter von Pünktlichkeit, unter anderem. Sie warf sich den
Mantel über und ging schnell. Trembler ging wieder in den Hof und
ließ Sally allein zurück. Das Haus war plötzlich ruhig und leer. Mr.
Bedwell hatte eine Zeitung zurückgelassen, und sie wollte einen Blick
auf die Anzeigen werfen. Sie entdeckte, daß eine Firma, die sich ,The
London Stereographic Company' nannte, vor kurzem aufgenommene
Porträts von Mr. Stanley, dem berühmten Forschungsreisenden, und
die neuesten Porträtaufnahmen von Dr. Livingstone zum Verkauf
anbot. Es wurde noch Verschiedenes zum Verkauf angeboten, aber
niemand hatte an dramatische Szenen oder bebilderte Geschichten
gedacht. Sie würden den Markt für sich haben. Dann fiel ihr Blick auf
eine kleine Anzeige unter Verschiedenes'.
VERMISST. Seit Dienstag, 29. Oktober, wird eine JUNGE DAME,
sechzehn Jahre alt, vermißt; sie ist schlank, hat helles Haar und
braune Augen. Sie trug entweder ein schwarzes Musselinkleid mit
schwarzem Mantel oder ein dunkelgrünes Leinenkleid und Schuhe mit
Messingschnallen. Sie führt eine kleine Reisetasche aus Leder mit den
Initialen V. L. mit sich. Mr. Temple von Temple and King, Lincolns
Inn, nimmt Informationen dankbar entgegen.
Sally fröstelte plötzlich und bildete sich ein, für alle sichtbar zu sein
und daß ganz London auf sie starren würde. Sie mußte sich andere
Kleidung besorgen! Und so viel wie möglich im Haus bleiben.
Obwohl sie ja schließlich nicht für immer von der Bildfläche
verschwinden konnte, und London war doch wahrhaftig groß genug,
um sich zu

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