Der Rubin im Rauch
zog sie den Hahn weiter zurück, um die
Pistole zu entsichern, und zielte auf die Mitte der Tür. Dann drückte
sie auf den Abzug.
Die Waffe wurde erschüttert, aber das hatte sie erwartet und sich
darauf eingestellt. Der laute Knall und der Geruch des Pulvers waren
anders als das, was sie gewöhnt war, aber doch so ähnlich, daß sie
dadurch freudig erregt war, und im selben Bruchteil einer Sekunde
wurde ihr bewußt, daß der Lauf standgehalten hatte, daß ihr Arm und
ihre Hand unversehrt waren, und daß alles im Hof noch genauso wie
vor dem Schuß war. Einschließlich der Schuppentür.
Nirgends war ein Schußloch zu entdecken. Verblüfft untersuchte sie
die Pistole, aber sie war leer. Hatte sie die Kugel vergessen? Nein, sie
erinnerte sich an den Stoffetzen von dem blauen Kleid. Was war dann
passiert? Wo war die Kugel hingekommen? Die Tür war wahrhaftig
groß genug -- aus dieser Entfernung hätte sie eine Visitenkarte treffen
können. Dann sah sie das Einschußloch. Es war etwa einen halben
Meter links von der Tür und etwa dreißig Zentimeter vom Boden
entfernt; sie hatte ungefähr auf Kopfhöhe gezielt. Sie war froh, daß ihr
Vater diesen Schuß nicht gesehen hatte. Sicher war doch der Rückstoß
nicht schuld, daß sie so daneben getroffen hatte? Sie verwarf den
Gedanken sofort wieder. Hunderte von Schüssen hatte sie schon hinter
sich, sie wußte Bescheid im Schießen.
Es mußte an der Waffe liegen, sagte sie sich schließlich. Ein kurzer,
breiter, ungezogener Lauf garantierte keine Treffgenauigkeit. Sie
seufzte. Wenigstens hatte sie jetzt jedoch etwas, was lauten Krach
machte und nach Pulver roch, und das war vielleicht schon genug, um
einen Angreifer zu erschrecken, aber sie hätte dann nur einen Schuß...
Die Küchentür öffnete sich, und Frederick kam herausgerannt.
„Zum Kuckuck noch mal - " fing er an.
„Es ist alles in Ordnung", sagte sie. „Nichts kaputt. Habt ihr den
Knall drinnen gehört?"
„Das kann man wohl sagen. Mein hübsches Modell hat's vom Stuhl
gerissen, und fast war das ganze Bild ruiniert gewesen. Was machst
du denn bloß, um Himmels willen?"
„Eine Pistole ausprobieren. Tut mir leid."
„Mitten in London? Du bist ein Barbar, Lockhart. Ich weiß nicht,
was das für 'n Effekt auf Mrs. Holland hat, aber mich hast du
geschockt, bei Gott. Das war der Herzog von Wellington", sagte er
etwas freundlicher, „der über seine Soldaten spricht. Alles in Ordnung
bei dir?"
Er kam näher und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zitterte
am ganzen Körper und fror und fühlte sich gekränkt, ärgerte sich aber
über sich selbst.
„Schau dich an", sagte er. „Du zitterst ja wie Espenlaub. Wie kannst
du da denn überhaupt richtig schießen, wenn du so zitterst? Komm
rein und wärm dich auf."
„Ich zitter gar nicht, wenn ich schieße", murrte sie, die Stimme
versagte ihr fast, und sie ließ sich wie eine Invalide ins Haus führen.
Wie kann er nur so dumm sein? Wie kann er nur so blind sein? dachte
sie und zur gleichen Zeit: wie kann ich nur so ein Schwächling sein?
Sie brachte kein Wort heraus und setzte sich hin, um die Pistole zu
säubern.
„ZUM TÜRKENKOPF"
Mrs. Holland, die ja mit Mr. Selby eine entsprechende Verabredung
getroffen hatte, kommandierte einen ihrer jungen Männer ab, als
Bewacher für ihn. Dieser Bursche saß im Büro, nagte an den
Fingernägeln und pfiff unmelodisch vor sich hin. Er heftete sich Mr.
Selby an die Fersen und verärgerte alle, denen sie begegneten, da er
darauf bestand, nach verborgenen Waffen zu suchen. Jim amüsierte
sich köstlich. Jedesmal, wenn er ins Büro kam, ließ er den jungen
Mann ihn durchsuchen -- und das tat er so oft wie möglich, so daß Mr.
Selby schließlich die Geduld verlor und ihn hinauswarf.
Aber Mr. Selby zu peinigen war nur eine von Jims
Beschäftigungen. Er verbrachte in den nächsten Tagen viel Zeit in
Wapping. Er machte die Bekanntschaft eines Nachtwächters am
Hafendamm des Aberdeen Kais, der ihn mit Informationen über Mrs.
Holland versorgte im Austausch für zerlesene Exemplare der
,Gruselgeschichten für junge Engländer'. Die Informationen waren
zwar nicht besonders interessant, aber immerhin etwas, was auch für
die Informationsfetzen galt, die er von Straßenbengeln aufschnappte --
Jungen und Mädchen, die sich ihren Lebensunterhalt damit
verdienten, daß sie Kohlestückchen und ähnliches bei Ebbe aus dem
Schlick aufhoben. Manchmal wandten sie ihre Aufmerksamkeit auch
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