Der Rubin im Rauch
noch eine, und immer noch ertönten diese schweren Schritte.
Verzweifelt warf sich Jim in einen kleinen Durchgang, der so eng war,
daß er sich kaum durchzwängen konnte, Adelaide stieß er vor sich
her. Sie stürzte, er fiel auf sie und lag keuchend still.
Irgend etwas bewegte sich in dem Durchgang vor ihnen -- ein
schnelles Rascheln wie von einer Ratte. Adelaide zuckte zusammen
und drückte ihr Gesicht auf seinen Hals.
„Hallo, Kamerad", kam eine Stimme aus der Dunkelheit.
Jim blickte auf. Ein Streichholz flammte auf, und Jim spürte, wie
sein Gesicht wie von selbst grinste.
„Gott sei Dank! Adelaide, 's is gut! Das ist mein Kamerad Paddy!"
Adelaide brachte keinen Ton heraus; sie war in einem solchen
Schockzustand, daß sie sich kaum bewegen konnte. Sie schaute auf
und sah das Gesicht eines schmutzigen, schlauen Burschen in Jims
Alter, der offensichtlich in Sackleinwand gekleidet war. Sie konnte
nichts sagen, deshalb senkte sie den Kopf wieder auf den nassen Stein.
„Is das die Göre, die Mrs. Holland will?" fragte er.
„Du weißt es doch, oder? Wir müssen raus aus Wapping. Aber sie
hat an den Brücken ihre Kerle stehn."
„Ihr seid an den Richtigen geraten", sagte der Junge. „Ich kenn
mich hier prima aus. Alles, was man kennen muß, kenn ich."
Paddy war Anführer einer Bande von Straßenjungen. Er hatte Jims
Bekanntschaft gemacht, als er und seine Kumpane den Fehler
begangen hatten, ihn erstens mit Steinen zu bewerfen und zweitens
seine Schimpfkanonade mit Beleidigungen zu quittieren; Jims
Treffsicherheit war größer, und sein Wortschatz war viel reicher als
alles, was sie zusammenbringen konnten, und er stieg sofort in ihrer
Achtung.
„Aber was tust du denn in der Gegend?" flüsterte Jim. „Ich hab
gedacht, du wärst immer am Flußufer?"
„Hab so meine Pläne. Hab 'n Auge auf 'n Kohlenschiff im Old
Basin geworfen. Da haste Glück, was? Kannste schwimmen?"
„Nein. Kannst du schwimmen, Adelaide?"
Sie schüttelte den Kopf.
Sie lag immer noch flach auf dem Boden, das Gesicht zur Wand.
Der Durchgang, in dem sie sich befanden, war überdacht, so daß sie
nicht im Regen waren, der heftig auf die Straße hinter ihnen prasselte,
aber ein kaltes Rinnsal tropfte aus der Dachrinne und durchnäßte
Adelaides Kleid. Der barfüßige Paddy achtete nicht darauf.
„Die Flut kommt bald. Gehn wir."
„Los, komm", sagte Jim und zog Adelaide hoch.
Sie gingen hinter Paddy her weiter in den Durchgang, vorsichtig
tastend in der Dunkelheit.
„Wo sind wir?" flüsterte Jim.
„Da wird tierische Kohle gemacht", kam die Antwort von vorne.
„Hier is 'ne Tür."
Er blieb stehen. Jim hörte, wie ein Schlüssel in einem Schloß
umgedreht wurde, und dann öffnete sich die Tür knarrend. Der Raum,
den sie betraten, wirkte lang und wie eine Höhle, und die tropfende
Kerze erhellte nur einen Teil davon. Ein Dutzend Kinder oder auch
mehr, mit Lumpen am Leib, lagen schlafend auf zusammengeknüllten
Säcken; und ein Mädchen mit stechendem Blick, das ein bißchen älter
als Paddy sein mochte, hielt die Kerze. Es roch muffig im Raum.
„'n Abend, Alice", sagte Paddy. „Zwei Gäste."
Sie starrte sie schweigend an. Adelaide klammerte sich an Jim, der
völlig ungerührt zurückstarrte.
„Wir müssen sie aus Wapping rausbringen", sagte Paddy. „Ist
Dermot auf dem Schleppkahn?"
Alice schüttelte den Kopf.
„Dann schick Charlie zu ihm. Du weißt, was ich meine."
Sie nickte einem kleineren Jungen zu, der sofort verschwand.
„Wohnst du hier?" fragte Jim.
„Ja. Die Ratten, die da rumlaufen, verkaufen wir, da wird Kohle
draus gemacht."
Jim schaute sich um und sah einen Haufen Tierknochen in einer
Ecke, auf dem sich etwas bewegte. Dann sprang ein Wesen auf, das
sich als fünf- oder sechsjähriger Junge -- halb nackt -- entpuppte, der
auf Alice zutorkelte mit einer sich windenden, mit dem Schwanz um
sich schlagenden Ratte in den Händen. Sie nahm sie wortlos entgegen
und warf sie in einen Käfig.
„Du kannst hierbleiben, wenn de willst", sagte Paddy. „Hübsche
Unterkunft hier."
„Nein, wir müssen weiter. Los, komm, Adelaide."
Jim zog sie an der Hand mit sich. Er machte sich Sorgen: sie war so
passiv, so still. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ein bißchen
Kampfgeist gezeigt hätte.
„Da durch", sagte Paddy und führte sie in einen noch größeren,
noch übler riechenden Raum. „Hier müssen wir vorsichtig sein. Wir
dürfen eigentlich keinen Schlüssel nich ham. Die Brennöfen sin die
ganze Nacht
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