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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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und bebend gehorchte sie. Dann streckte sie die Arme aus und gab
ihm ihre Hände, und er zog sie nach oben. Sie war das reinste
Fliegengewicht. Im nächsten Augenblick waren sie im Friedhof unten.
Dunkle, schräge Grabsteine, verwildertes Gras, verbogene Zäune
umgaben sie, und die massige Form der Kirche vorne ragte düster
empor. Die Orgel spielte, drinnen sah es warm aus und freundlich, und
Jim war in größter Versuchung. Sie schlängelten sich zwischen den
Gräbern hindurch bis zum Eingang, wo sie im Schein einer Gaslaterne
sahen, wie schmutzig sie waren.
„Tu deinen Rock runter", sagte er. „Das sieht lächerlich aus."
Sie tat wie geheißen. Er schaute nach links und nach rechts, die
Straße war leer.
    „Ich glaub, wir gehn lieber nicht den selben Weg zurück", sagte er.
„Es ist bloß 'n Sprung von ihrem Haus entfernt, die Brücke da. Gibt's
irgendeinen ändern Weg durch diese verfluchten Docks?"
„Beim Tobacco Dock ist 'ne Brücke", flüsterte sie. „Old Gravel
Lane rauf."
     
„Also los, geh du voran. Aber bleib im Dunkeln."
    Sie führte ihn an der Vorderfront der Kirche nach rechts, an einer
nicht mehr benutzten Lagerhalle vorbei. Diese Straßen waren enger
    als die High Street und von kleinen winkligen Häuserreihen gesäumt,
die eher wie Kais und Lagerhallen aussahen. Es waren wenig
Menschen unterwegs. Sie kamen an einem Wirtshaus vorbei, aber
selbst das war ruhig, obwohl Licht durch die Fenster drang.
    Sie gingen schnell weiter, und Jims Hoffnung stieg. Sie müßten zu
Fuß zur Burton Street zurückgehen, aber das machte nichts aus, ein
anderthalbstündiger Fußmarsch würde nichts schaden. Alles in allem
war es noch glimpflich abgegangen.
    An der Ecke der Old Gravel Lane hielten sie an; sie war breiter und
besser beleuchtet als die Gasse, aus der sie kamen. Es fing an zu
regnen; Jim spähte nach vorne, legte die Hand an die Augen und sah
die dunklen Umrisse von zwei oder drei Lagerhallen am Ende der
Straße und dahinter eine Brücke.
    „Ist es das?" fragte er.
„Ja", sagte sie. „Das ist das Tobacco Dock."
Vorsichtig gingen sie um die Ecke und machten sich auf den Weg
zur Brücke. Ein Fuhrwerk mit einer Plane über der Fracht kam
angefahren, aber es war schon vorbei, ehe Jim den Kutscher bitten
konnte, sie mitzunehmen. Ein paar Vorübergehende schauten die
beiden neugierig an -- das verschreckte kleine Mädchen in einem
Umhang, der zu groß für sie war, und der Junge ohne Hut und Mantel
in dieser nassen Nacht -- aber alle gingen weiter, mit gesenktem Kopf
gegen den Sturm. Sie waren beinahe an der Brücke, als man sie
entdeckte. Auf der rechten Seite der Straße befand sich das Häuschen
eines Nachtwächters, vor dem in einer Kohlenpfanne ein Feuer
brannte, in das ab und zu zischend Regentropfen fielen, die von der
Plane abperlten, die lose darüber gehängt war.
    Ein Mann -- nein, zwei -- saßen in dem Häuschen, und aus dem
Augenwinkel sah Jim sie aufstehen, als er und Adelaide näherkamen,
und er hatte gerade noch Zeit zu denken: Warum machen sie denn
das? als er den einen von ihne n sagen hörte: „Los -- das ist sie! Das ist
sie!"
    Er spürte, wie Adelaide neben ihm in sich zusammensackte: wieder
war sie wie gelähmt. Er packte ihre Hand, als die Männer aus dem
Häuschen kamen, sie machten kehrt und rasten den Weg, den sie
gekommen waren, wieder zurück. Es gab keine Seitenstraßen; die
Mauern der Lagerhallen ragten steil und düster zu beiden Seiten
empor.
„Renn, was de kannst, um Himmels willen! Renn!" schrie er.
    Auf der linken Seite sah er eine Öffnung und stürzte hinein, sie
hinter sich her schleppend, dann ging es links um eine Ecke und
wieder rechts, bis die Männer außer Sichtweite waren.
„Wohin?" keuchte er. „Schnell -- ich kann sie hören."
    „Nach Shadwell", stieß sie hervor. „Oh, Jim, die bringen mich um --
ich muß sterben, Jim - "
„Halt den Mund und red nicht so dummes Zeug. Die bringen dich
nich um. Niemand bringt dich um. Das hat sie bloß gesagt, um dir
Angst zu machen, die häßliche alte Hexe. Sie will Sally, nicht dich.
Los geht's, wie kommen wir nach Shadwell?"
Sie waren in einer enge n Straße, die Pearl Street hieß -- kaum breiter
als eine Gasse. Unentschlossen schaute sie nach rechts und links. „Da
sind sie!" brüllte es hinter ihnen, und die Wände warfen das Echo
dröhnender Schritte wider. Wieder flüchteten sie. Aber Adelaide
wurde müde, und Jim war außer Atem; wieder eine Ecke und noch
eine und

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