Der Ruf der Finsternis - Algarad 2

gewesen war und ihm Liebe und Zuwendung geschenkt hatte. Nein, sie hatten auch unsägliches Leid über alle Einwohner Gonduns gebracht und sein Heimatdorf Esgalin vernichtet! Sie hatten ihm alles genommen! Dafür würden sie büßen! Auch wenn die Dan-Ritter Vergeltung nicht guthießen – er würde jeden Gredow einzeln für seinen Verlust bezahlen lassen!
    »Was wirst du jetzt tun?« Hergans Stimme riss Tenan aus seinen finsteren Gedanken. »Osyns Tod hat eine schmerzliche Lücke hinterlassen. Möchtest du nicht an seine Stelle treten und Comori des Dorfes werden? Immerhin hat er dich zum Wasserzauberer ausgebildet und dir all seine Magie beigebracht. Die Dorfbewohner würden es schätzen und ich ... wir würden uns freuen.«
    Tenan blickte in das wirbelnde Wasser, es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Hergans Worte waren tröstlich undhatten sogar kurz einen Funken von Freude in ihm entfacht, der aber gleich wieder erloschen war. Der Schmerz über den Verlust war einfach zu groß und würde ihn noch lange begleiten.
    »Ich könnte seinen Platz nie einnehmen«, antwortete Tenan betrübt. »Nein, ich kann nicht hierbleiben. Mein Weg führt fort aus Gondun, ich weiß noch nicht wohin. Noch ist ungewiss, ob ich meinen Platz im Orden der Dan-Ritter finden werde, aber eines ist sicher: Ich werde gegen die Gredows zu Felde ziehen und jeden einzelnen von ihnen vernichten!«
    Hergan und Fenn erwiderten nichts darauf, und Tenan überließ sich von neuem seiner Trauer und seinen düsteren Gedanken. So standen sie schweigend, während der Regen aus dem goldenen Blätterdach des Rhun-Waldes wie Tränen auf sie niederprasselte.

19
    Eine grelle Sonne strahlte aus einem stahlblauen Himmel hinab auf die Segel eines großen, stattlichen Schiffes, das geschwind übers Wasser schoss. Viele hundert Seemeilen hatte es Andorin, den Hochkönig von Algarad, übers Meer getragen, nun näherte es sich dem Ziel seiner Reise: der Schwimmenden Festung Garadin. Die vielen Wochen auf See waren ereignislos verlaufen, weder Piraten noch Harg-Fische hatten die Besatzung der Tenrys behelligt, und als das Schiff die Breiten der Skethryr-Klippen passierte, hatte sich sogar das stürmische Herbstwetter gebessert, das sie seit der Abfahrt verfolgte. Andorins Mannen hatten ihre Waffenkünste trainiert,gleichwohl rechnete keiner von ihnen ernsthaft mit einem feindlichen Angriff.
    »Land in Sicht!« Der lang erwartete Ruf des Matrosen im Ausguck schallte weithin übers Deck, und jedermann eilte an den Bug, um einen Blick auf die Umrisse unbekannter Inseln zu erhaschen, die sich am Horizont abzeichneten. Viele Wochen hatten die Seeleute kein Land mehr gesehen, denn die Tenrys hatte sowohl um die Kerr-Inseln als auch um die Inseln von Caran einen weiten Bogen gemacht.
    Kapitän Kol, ein untersetzter, kahlköpfiger Mann mit dem Nacken eines Stieres, scheuchte die Männer zurück auf ihre Posten. »Keine Zeit, herumzustehen und zu glotzen! Wir befinden uns in gefährlichem Gewässer, seid auf der Hut! Hier wimmelt es von Untiefen und Riffen!«
    Er schickte Matrosen in die Rahen, um die Segel zu reffen, und das Schiff verlangsamte seine Fahrt. Zu beiden Seiten des Rumpfs wurden Ruder ausgefahren, um die Tenrys zwischen den scharfzackigen Felsen, die sich nur knapp unter der Wasseroberfläche befanden, besser manövrieren zu können. Immer näher kamen die Inseln, zwischen denen die Schwimmende Festung verborgen war. Steil und abweisend ragten die Klippen aus dem Meer. An einigen der Inseln öffneten sich lang gezogene Fjorde, die in ein schroffes, gebirgiges Hinterland übergingen. Nirgendwo gab es Siedlungen, denn auf dem karstigen, felsigen Boden konnte nichts angebaut werden, außerdem lagen sie abseits jeglicher Handelsrouten. Nicht einmal Piraten mochten sie als Zufluchtsort nutzen.
    Die Durchfahrt gestaltete sich schwierig, doch der Kapitän besaß Seekarten, in denen Fahrrillen verzeichnet waren, die es auch großen Schiffen mit starkem Tiefgang erlaubten, zum Mittelpunkt des Inselkreises vorzudringen. Matrosen standenmit langen Staken beidseits der Reling und hielten den Schiffsrumpf von Kanten und Felsen fern.
    Endlich tauchten die ersten Umrisse Garadins hinter zwei nadelspitzen Klippen auf. Aus der Ferne schien sie aus einer Vielzahl von Türmen verschiedener Höhe zu bestehen, die durch kleine Brücken miteinander verbunden waren.
    Die meisten der Seeleute und Dan-Krieger auf der Tenrys kannten Garadin nur aus Erzählungen aus alten Tagen; für