Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
gab Eilenna den Weg frei. Ihr Gesicht war bleich, als sie Tenan die Zügel des Flugtiers aus der Hand nahm. Er spürte, wie ihre Hände zitterten. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Tenan versuchte, sich jede Einzelheit ihres Gesichts, ihres Haares und ihrer Augen einzuprägen und tief in seinem Inneren zu verankern.
»Ich werde nach dir suchen und dich zurückbringen, das verspreche ich dir«, flüsterte er. Der Schmerz drückte ihm die Kehle zu.
»Versprich nichts, von dem du nicht sicher bist, dass du es halten kannst«, antwortete sie leise. Wie zufällig berührten sich ihre Finger, kurz nur, dann trennten sie sich voneinander.
Eilenna schritt langsam und mit hoch erhobenem Haupt durch die Höhle, direkt auf Thut Thul Kanen zu. Der Südländer stand unbeweglich und erwartete sie wie ein dunkler Gott, der seine Trophäe in die Unterwelt führen würde.
Als Eilenna in seine Reichweite gekommen war, packte ersie am Handgelenk und entwand ihr die Zügel des Vyrons, dann fesselte er sie mit einem Lederriemen. Eilenna wand sich, doch seinem festen Griff konnte sie nichts entgegensetzen. »Es ist unklug, sich zu wehren! Ich werde deine Fesseln lösen, sobald wir uns hoch droben in den Lüften befinden.«
Tenan beobachtete die Szene mit unbändiger Wut. Es kostete ihn größte Anstrengung, nicht einfach loszurennen und den Südländer anzugreifen. Stattdessen bewegte er sich langsam, möglichst unauffällig am Rande der Felswand auf Thut Thul Kanen zu, der nun damit beschäftigt war, das Zaumzeug zu prüfen und festzuzurren.
»Nun haltet Euren Schwur und übergebt mir den Kristall!«, rief Amberon.
Thut Thul Kanen hob Eilenna auf das Flugtier und schwang sich hinter ihr in den Sattel; er riss die Zügel herum und wendete es in Richtung des anderen Höhlenausgangs. Er lachte rau. »Ich kann Euch nicht sagen, wie froh ich bin, dieses Teufelsding endlich loszuwerden! Da habt Ihr es – möge es Euch gute Dienste leisten!« Mit diesen Worten schleuderte er dem Erzmagier den in Lumpen gewickelten Gegenstand entgegen.
34
Der Tempel der dunklen Göttin Kryr in den Grauen Sphären war von Nebelschwaden umgeben, die wie dünne Schleier um die Säulen waberten. Das farblose Licht sog alle Lebenskraft in sich auf und erzeugte eine Atmosphäre bleierner Lethargie. Die Wesen des Zwielichts fanden sich zuweilen im Tempel der Kryr ein und erflehten ihren Beistand, wennihre eigene Kraft geschwächt war, und so hatte auch der Bash-Arak ihr Heiligtum immer wieder aufgesucht, in der Hoffnung auf schnelle Genesung.
Er verbeugte sich vor dem Altar, auf dem eine Schale mit Schwarzem Feuer stand. Er hatte die dunkle Glut des Xyss herbeibringen lassen, denn einmal mit dem Segen der Göttin Kryr versehen beschleunigte sie seine Heilung auf wundersame Weise. Der Preis dafür war allerdings hoch: Durch den Segen hatte der Bash-Arak seine Seele noch fester an die Dunkelheit gebunden, nun musste er noch anderen Kräften zur Verfügung stehen, sobald sie ihn riefen. Er stand in einer größeren Abhängigkeit als vorher. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt, zu lange war er schon zur Untätigkeit verdammt gewesen. Es war Zeit, dass er den Meledos fand und die Inkarnation der Schatten vorantreiben konnte.
Mit diesem letzten Ritual im Tempel der Kryr war er endlich zu seiner alten Kraft gekommen. Es hatte die Wirkung der schwarzen Wunde an seiner Schulter abgeschwächt und sie schließlich zum Verschwinden gebracht. Der tobende Schmerz in seinem Inneren war jedoch geblieben, immer noch quälten ihn Bilder und Erinnerungen aus alter Zeit, in der er einst so etwas wie Freude oder Glück empfunden hatte.
Zornig wischte er diese Empfindungen beiseite, sie gehörten nicht mehr zu ihm, waren ihm fremd geworden und blieben besser verschlossen hinter einem Siegel ewigen Vergessens.
Er verließ den Tempel der Kryr und schwang sich empor in den grauen Himmel, um sich in der Welt der Sterblichen, in Algarad, erneut auf die Suche nach dem Meledos-Kristall zu machen. Die Landschaft lag leer und wüst wie ein Spiegel seiner Seele unter ihm, doch sein Blick war auf das Weltentor gerichtet, dessen Umrisse allmählich am Horizont auftauchten.Es stand monolithisch inmitten der Ebene und glich mit seinen aus den Angeln gerissenen Torflügeln mehr einer Ruine als einem Portal.
Langsam sank der Bash-Arak abwärts und landete sacht neben den wuchtigen Basaltsäulen. Er blickte in die Leere zwischen den Welten, die sich gleich hinter den
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