Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
gefällt.«
»Warum ist er nicht im Land der Lebenden, sondern hier bei dir im Land der Toten?«
»Mir war so einsam zumute«, schluchzte der Geist. »Außerdem war ich so verzweifelt, weil ich mein Kind allein zurücklassen musste. Ich habe ihn zu mir geholt, damit ich nicht allein bin.«
»Aber Kantla hat im Leben noch viele Aufgaben«, verteidigte Nakeshi Kantlas Recht und Pflicht zu leben. »Wer sorgt sich um dein Kind, um die Familie und die Verwandten? Wer wird einmal bei der Erziehung deiner Enkelkinder helfen?«
»Ich habe keine Familie«, klagte der Geist verbittert. »Sie denken nicht an mich und haben mich längst vergessen!« Sie wurde immer aufgebrachter und umklammerte Kantlas Geist noch fester. So viel Unvernunft machte Nakeshi wütend.
»Wie kann man nur so eigennützig sein?«, schimpfte sie. »Was soll dein Kind eines Tages denken, wenn es erfährt, was du gemacht hast? Wird es dich dann noch lieben können? Lass ihm seinen Vater und die gute Erinnerung an dich!«
Der Geist der Frau war verunsichert. »Bist du sicher, dass es so kommen wird?«
»Aber natürlich«, bekräftigte Nakeshi. »Lass Kantla die Zeit, sich um euer Kind zu kümmern. Eines Tages werden sie beide zu dir kommen.«
Traurig nickte der Geist der Frau. Er hatte sich besonnen. Mit einem lauten Aufheulen gab sie Kantla frei, indem sie die Pfeile seiner Krankheit aus seinem Körper löste.
Glücklich machte sich Nakeshi auf den Rückweg. Der Geist der Frau folgte ihr wie ein Schatten, vielleicht um nachzusehen, wo Kantla jetzt war. Plötzlich wurde er abgelenkt und änderte seine Richtung. Nakeshi wunderte sich, aber dann hörte sie einen kläglichen Hilferuf, dem sie unbedingt folgen musste. In gewissem Abstand folgte sie der immer schneller schwebenden Geistfrau, bis sie
an eine Nebelwand kamen. Nakeshi blieb davor stehen, während die Geistfrau sie durchschritt. Die Wand war nicht ganz trüb, sodass Nakeshi auf der anderen Seite einen Baum erkennen konnte, auf dem ein lebloser weiblicher Körper hing.
»Sternenschwester«, meinte Nakeshi erstaunt. »Was macht dein Geist hier in der Anderswelt?«
»Ich weiß es nicht«, meinte sie verwirrt. »Etwas hat mich hierhergelockt.« Nakeshi sah sich um, aber außer ihr und ihrer Sternenschwester war niemand anderes da. Auch die Geistfrau hatte sich zurückgezogen. Behutsam untersuchte Nakeshi den Geist ihrer Sternenschwester nach Pfeilen. Sie fand jedoch nichts Böses.
»Warte, ich helfe dir«, meinte sie zärtlich. Mit einem sanften Hauch übertrug sie ihr etwas von ihrem Num. Einem Windhauch gleich verließ der Geist die Welt der Toten.
Die Aktion hatte Nakeshi Kraft gekostet. Es war höchste Zeit, in ihren Körper zurückzukehren. Sie sammelte ihre Gedanken, doch ihre Kräfte hatten nachgelassen. Durch die Übertragung eines Teils ihres Num hatte sie sich selbst so geschwächt, dass ihr Bewusstsein nun große Mühe hatte, in ihr versammelt zu bleiben. Immer wieder löste sich ein Teil von ihr und drohte in den Weiten der Anderswelt verloren zu gehen.
Besa und Chuka fuhren mit ihrer Massage umso kräftiger fort, je weniger Reaktionen Nakeshis Körper zeigte. Debe machte sich große Sorgen und vergaß dabei die Angst, die er vor dem Trancetanz hatte. Er erhob sich und begann nun ebenfalls zu stampfen und mit den Füßen zu scharren. Seine Stimme klang leicht brüchig und auch etwas ängstlich, als er zu singen anfing. Mit der Zeit gewann sein Gesang jedoch an Festigkeit und Zuversicht. Die Gruppe unterstützte nun auch ihn mit ihrer monotonen Sangesbegleitung. Der alte Joansi hatte sich schon lange nicht mehr auf den Weg in die Geisterwelt gemacht, weil er die Qualen der
Rückkehr scheute. Außerdem empfand er sich nicht als der geborene Heiler. Seine Fähigkeiten lagen in der Jagd und im Vermitteln von Streitigkeiten. Deshalb hörten viele auf ihn, was ihn mit Stolz erfüllte. Aber jetzt ging es um das Leben seiner jüngsten Tochter. Irgendetwas hielt sie in der Anderswelt auf und hinderte sie daran, wieder in ihren Körper zurückzukehren. Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, war, selbst in die Geisterwelt zu reisen. Zweimal schlugen seine Bemühungen fehl. Immer wenn sein Geist sich lösen wollte, wurde er wieder wie zäher Harz in seinen Körper gezogen. Debes Kräfte ließen merklich nach, aber bei der letzten, verzweifelten Bemühung spürte er den schmerzhaften Ruck und glitt hinüber in die andere Dimension. Er brauchte nicht lange, bis er Nakeshis
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