Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
sie einsperren und zwingen, mit ihm zu reisen. Jella schalt sich wegen ihrer törichten Gedanken und versuchte einen klaren Kopf zu behalten. Im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als sich möglichst ruhig zu verhalten und abzuwarten. Schleifende Geräusche und das Verrücken von Gegenständen deuteten daraufhin, dass ein Mitarbeiter etwas suchte. Endlich schien die Person gefunden zu haben, was sie suchte, und verließ kurz darauf den Raum. Es wurde wieder dunkel. Jella atmete auf. Gerade wollte sie sich ein Plätzchen suchen, um sich hinzusetzen, als sie bemerkte, dass sich die hintere Tür, durch die sie gekommen war, öffnete.
»Kleine, ich weiß, dass du da drinnen bist. Komm raus!«, raunte eine heisere Stimme. Jellas Alarmglocken schrillten. Überstürzt versuchte sie zu fliehen und stieß dabei gegen einen Gegenstand, der polternd zu Boden fiel. »Wusste ich’s doch!« Die Stimme des Verfolgers klang zufrieden. Der Kerl war nun ebenfalls in der Requisitenkammer, nur schien er sich in der Dunkelheit viel besser zurechtzufinden als sie. Warum hatte sie nur das Gefühl, dass er direkt hinter ihr war? Überstürzt raffte sie sich auf und suchte ihr Heil am anderen Ende des Raumes in der Tür, durch die gerade der Bühnenarbeiter verschwunden war. Mittlerweile war es ihr egal, was sie dort erwartete. Jella strebte mit aller Gewalt in die Richtung, wo sie die Tür vermutete. Dabei scherte es sie nicht, dass noch mehr Gegenstände zu Boden fielen und sie einen Heidenlärm veranstaltete. Schließlich hatte sie das andere Ende des Raums erreicht. Sie tastete sich hektisch an der Wand entlang. Leider war ihr Verfolger beinahe genauso schnell. Einmal meinte sie sogar, seine Hand an ihrem Rock zu spüren. Dann ertasteten ihre Finger einen Türgriff. Sie stieß die Tür auf und schlüpfte hindurch. Mit einem Ruck zog sie sie hinter sich zu und schob den Riegel
vor. Keine Sekunde zu früh, denn die Klinke bewegte sich schon wieder nach unten. Auf der anderen Seite hörte sie ein Rütteln und Fluchen. Jella grinste. Sie hatte ihren Verfolger abgehängt! Außer Gefahr war sie jedoch noch längst nicht. Das wurde ihr klar, als ihr bewusst wurde, wo sie sich nun befand. Sie stand direkt auf der Bühne. Lediglich ein roter Samtvorhang trennte sie von den Schaustellern und dem Publikum. Durch den dicken Stoff hörte sie das Klatschen der Zuschauer und die Worte des Direktors, der die »echten Hottentotten, Wilde aus unseren Kolonien«, verabschiedete. Die Begeisterung der Zuschauer war der Grund dafür gewesen, dass niemandem das Gepolter in der Requisitenkammer aufgefallen war. Wenn sie nicht entdeckt werden wollte, musste ihr etwas einfallen. Jeden Moment konnten die Darsteller der Völkerschau- Truppe abtreten. Hastig eilte Jella dorthin, wo sie den Ausgang vermutete. Doch sie hatte die falsche Richtung gewählt. Dort war keine Tür. Sie sah sich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit um. In diesem Moment trat der erste Darsteller, der Impresario der Menagerie, Dr. Hagenstolz höchstpersönlich, durch den Schlitz im Vorhang. Er war eine hagere Person in Reithosen und Tropenhelm. Ein dicker, blonder Backenbart und ein hochgezwirbelter Schnurrbart standen in lächerlichem Kontrast zu dem spitzen, vorstehenden Kinn. Höchst zufrieden, den Blick stolz nach oben gerichtet, strebte er in Richtung Ausgang. Jella hielt die Luft an. Schnell drückte sie sich in die Falten des Samtvorhangs und versuchte sich, so gut es ging, darin zu verbergen. Nach und nach traten die anderen Darsteller hinter die Bühne. Zwischen den schweren Falten bekam sie die Gelegenheit, einen Blick auf die Darsteller zu werfen. Zuerst dachte sie, die Hottentotten wären Kinder, so klein und zierlich waren sie. Im Halbdunkel konnte sie nicht viel erkennen, nur dass die kleinen Menschen, bis auf einen Lendenschurz aus Leder, völlig unbekleidet waren. Sogar die Brüste der Frauen waren unbedeckt! Am auffälligsten waren jedoch
ihre großen Hinterteile, die sich wie Höcker von ihrem übrigen Körperbau abhoben. Um sie besser sehen zu können, wurde Jella unvorsichtig und wagte sich etwas aus ihrer Deckung heraus. Sie war gleichzeitig fasziniert und berührt von den Menschen, die so gar nicht in das moderne, motorisierte Berlin passten. Da drehte sich die Letzte der Gruppe, eine ältere Frau, nach ihr um. Rasch zog Jella eine Falte des Vorhangs über sich. Sie hoffte, dass sie unbemerkt geblieben war. Nun konnte sie nichts mehr sehen. Ein bellender Husten,
Weitere Kostenlose Bücher