Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
gepflegter Vollbart stach über seinem gestärkten Hemdkragen wie eine Lanze nach vorn, und seine kleinen, alles erfassenden Augen huschten misstrauisch über den Gang. Seit fünfundvierzig Jahren stand er dem von ihm geschaffenen Ordinariat für Pathologie vor und war außerdem Prosektor der Charité. Als Leiter des modernsten Krankenhauses von Berlin hatte er die pathologisch-anatomische Sammlung ausgebaut, die seit 1899 im eigens dafür errichteten Pathologischen Museum zu besichtigen war. Außerdem war er als Gründer und Vorsitzender der Deutschen Fortschrittspartei Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Seiner Initiative war es zu verdanken, dass Berlin Krankenhäuser besaß, die für alle Menschen zugänglich waren. Er hatte sich für Parks und Kinderspielplätze eingesetzt, um die Lage des städtischen Proletariats zu verbessern.
Kurz: Professor Rudolf Virchow war ein berühmter Mann, der vorgab, für die »Freiheit mit ihren Töchtern Bildung und Wohlstand« einzutreten. Genau diese Worte hatten es Jella angetan und sie beeindruckt. Sie hatte sie neulich in einem Fetzen Zeitung gelesen, in den Oma Grambor ein Stück Speck gewickelt hatte.
Wenn Professor Virchow Freiheit in einem Atemzug mit Bildung und Wohlstand nannte und sie noch dazu als »Töchter« titulierte, dann musste er ein sehr liberal denkender Mensch sein und würde ihr Anliegen verstehen. Dies und die Kraft, die sie seit dem seltsamen Erlebnis auf dem Vergnügungspark spürte, machten ihr Mut, sich heute ganz früh an die Universität zu begeben. Seit der seltsamen Begegnung mit der Hottentottenfrau und ihrer anschließenden Vision hatte sich Jellas Blick auf die Welt verändert. Ihr war bewusst geworden, dass es Dinge gab, die weit außerhalb ihrer bescheidenen Vorstellungskraft lagen. Der Drang, mehr darüber zu erfahren, war immer stärker geworden. Seltsamerweise sah sie nun viele Dinge positiver und konnte auch die Schrecken und negativen Auswirkungen ihres momentanen Lebens besser ertragen. Ihre dunkle Behausung mit ihren Wanzen und Flöhen, ja selbst die Krankheit ihrer Mutter verloren ihre Schrecken, wenn sie an die junge Hottentottenfrau aus ihrer Vision dachte, die ihr Herz so sehr gewärmt hatte. Sie hatte sich auf unerklärbare Weise getröstet gefühlt. So, als wolle diese fremde junge Frau ihr sagen, dass sie nicht allein auf dieser Welt stand. Ohne sie zu kennen, wusste sie, dass die junge Afrikanerin aus einer völlig fremden Welt ihr näher stand als viele andere Menschen hier in Berlin. Ihr war, als hätte sie eine Verbindung geknüpft. Und diese Verbindung machte sie stark. Ungeachtet ihrer verfänglichen Situation hatte sie später versucht, der alten Frau zu helfen. Sie hatte sich sogar an Dr. Hagenstolz höchstpersönlich gewandt und verlangt, dass er einen Arzt holte. Widerstrebend war er darauf eingegangen. Doch als Jella ein paar Tage später nochmals auf den Rummel ging, um sich nach der Hottentottin zu erkundigen, erklärte man ihr, dass die Truppe bereits wieder abgereist sei.
Jella stand im Schutz eines Pfeilers und beobachtete, wie Professor Virchow energischen Schrittes auf sie zukam. Sie blinzelte.
Sobald sie sicher war, dass es sich tatsächlich um den berühmten Wissenschaftler handelte, schritt sie zur Tat. Sie zögerte noch einen winzigen Augenblick, fixierte den Professor wie eine Raubkatze ihr Opfer, holte tief Luft und ging ihm dann mit langen, energischen Schritten entgegen. Um schneller voranzukommen, musste sie ihren Rock raffen, sodass in ungehöriger Weise auch ihre Stiefel und ein Teil ihrer Unterschenkel zu sehen waren. Kurz vor dem Professor stellte sie sich ihm in den Weg. Überrascht von dem Ungestüm der jungen Frau stoppte Virchow und wich sogar einen Schritt vor ihr zurück. Jella überragte den berühmten Gelehrten um Haupteslänge. Sie war daran gewohnt, größer zu sein als andere. Virchow dagegen schnappte nach Luft. Zumindest für den Augenblick schien den kleinwüchsigen Professor ihre amazonenhafte Erscheinung einzuschüchtern. Dann erst dämmerte ihm langsam die Ungehörigkeit dieses Vorfalls. Ein gewöhnlicher Mensch - noch dazu eine Frau - wagte es, ihm, dem Ordinariatsleiter der Pathologie, Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und Vertrauten des Kaisers, in den geheiligten Hallen der Wissenschaften einfach so in den Weg zu treten. Das war unerhört!
»Was unterstehen Sie sich?«, überwand Virchow empört seine Sprachlosigkeit. Jella schien davon wenig
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