Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
den einzigen Sessel im Raum. Sie hüllte sie in eine Decke und brachte ihr ein Glas Wasser zum Trinken.
»Ich gehe los und hol den Arzt. Meinst du, du kommst so lange allein zurecht? In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück.«
Rachel nahm ihre Hand und schüttelte den Kopf. Das Reden kostete sie Kraft.
»Bleib bei mir«, bat sie leise. »Ich möchte dich bei mir haben.« Etwas in ihrem Tonfall machte Jella Angst. Es griff mit klammer Hand nach ihrem Herzen. Ihre Mutter ließ sie nicht los. Die schmale, blau geäderte Hand umklammerte ihre Hand wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Wie klein und verletzlich sie in ihren großen Händen aussah. Zärtlich strich Jella darüber und setzte sich neben sie auf den Schemel.
»Morgen bringe ich dich in unser Krankenhaus zu Professor Koch«, erzählte sie. »Er hat sogar ein Bett für dich in seiner Einrichtung. Dort wirst du mit den neuesten Medikamenten versorgt. Bald wirst du wieder gesund sein.«
Rachel nickte, aber ihre Gedanken waren offensichtlich ganz woanders.
»Hörst du, was ich gesagt habe?«, fragte Jella. »In ein paar Stunden wird man dir helfen.«
»Ich brauche keine Hilfe mehr«, sagte Rachel. Sie wandte sich ihrer Tochter wieder zu. Dabei wirkte sie auf merkwürdige Art entrückt und trotz ihres Fieberwahns auch heiter. Die graugrünen Augen glühten vor Fieber, und doch strahlten sie auch Zuversicht und Ruhe aus. Jella fürchtete sich, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Mutter sich immer weiter von ihr entfernte. Das wollte sie nicht zulassen.
»Was erzählst du nur für einen Unsinn?«, rief sie aufgebracht. »Du bist schwer krank und brauchst dringend Hilfe.«
»Mir wird es bald besser gehen«, beschwichtigte sie ihre Mutter. »Ich möchte, dass du mir etwas versprichst. Hörst du?« Der Druck um Jellas Hand wurde fester. Sie krallte sich sogar an ihrer Hand fest. »Du musst noch einmal mit deinem Großvater reden«, verlangte sie nachdrücklich. »Er weiß mehr über deinen Vater, als er zugibt.«
»Das interessiert mich nicht!«, rief Jella empört. »Ich will nur, dass du wieder gesund wirst!«
»Versprich es mir!«, flehte ihre Mutter. »Dann kann ich leichter loslassen. Dein Vater lebt. Ich spüre es.«
Ihre Augen saugten sich in Jellas fest und versuchten sie zu überzeugen, bevor ein neuer Hustenanfall ihren zierlichen Körper wie ein Stromstoß durchzuckte. Jella gelang es kaum, ihre Mutter auf dem Sessel zu halten. Doch so plötzlich, wie der Anfall gekommen war, war er auch wieder vorüber. Liebevoll wischte Jella den Speichel um ihren Mund ab. Da bemerkte sie, dass Rachel erneut ohnmächtig geworden war. Vorsichtig hob sie die zu einem Fliegengewicht abgemagerte Frau hoch. Schlaff wie ein Sack lag ihre Mutter in ihren Armen, während sie sie vorsichtig auf das Bett legte. Raumfüllende Angst überspülte sie wie eine mächtige Flutwelle. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie ihrer Mutter nicht mehr helfen konnte. Ihr Atem war flach und unregelmäßig, während die Augäpfel unter den geschlossenen Augenlidern rasch hin und her huschten.
»Mutter, bleib bei mir«, schluchzte Jella verzweifelt. »Ich kann ohne dich nicht leben!« Sie spürte, wie das bisschen Leben in ihrer Mutter aus dem Körper zu entweichen begann. Sie wollte es festhalten, aber etwas Mächtigeres lockte ihre Mutter weg von dieser Welt. Verzweiflung, Hoffnung und Angst wechselten sich in ihr ab und rangen miteinander um ihre Vormachtstellung. Als die Verzweiflung schon Überhand genommen hatte, verbesserte sich der Zustand ihrer Mutter noch einmal. Ihr Atem wurde wieder etwas kräftiger, und sie schlug noch einmal ihre Augen auf. In Jella keimte sofort wieder Hoffnung auf.
»Jella, Liebes«, lächelte Rachel mit schwacher, aber klarer Stimme. »Hab keine Angst. Du musst nicht traurig sein. Auf meine Art werde ich immer bei dir bleiben. Versprich mir, dass du zu deinem Großvater gehst. Dein Vater lebt, ich...«
Ihre Augen weiteten sich plötzlich, als hätten sie in der Ferne etwas entdeckt, auf das sie schon lange gewartet hatte. Der letzte
Satz blieb unvollendet, während das Licht in ihren Augen brach und einem starren, leblosen Ausdruck wich.
Jella fühlte ein Rauschen in ihren Ohren wie das Brausen des Ozeans. Blut schoss in ihren Kopf, um sich rasend schnell wieder daraus zu entfernen. Ihr Herz setzte für einen Augenblick aus, bevor ein lauter, verzweifelter Schrei ihrer Kehle entwich.
Danach
Weitere Kostenlose Bücher