Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
verstummte sie und blickte ungläubig auf die leblose Gestalt, die so zart und zerbrechlich, so vertraut und jetzt fremd vor ihr im Bett lag. Zeit verstrich, während sie reglos neben ihrer Mutter sitzen blieb. Irgendwann setzte sich splitterartig der Gedanke fest:
Sie ist tot.
Jella war sich dessen bewusst und fühlte merkwürdigerweise überhaupt keinen Schmerz. Nur Leere und das mächtige Rauschen in ihren Ohren, das noch immer an- und abschwoll. Wie herausgelöst nahm sie das morgendliche Gezwitscher der Vögel im Innenhof wahr. Es klang seltsam schrill und beleidigte ihre Ohren. Genauso wie das Scheppern des Putzeimers draußen auf der Treppe und das Geplapper der Kinder, die die Nachttöpfe im Hof leerten. Ihr war, als hätte sich ihr Geist aus ihrem Körper herausgeschält. Sie beobachtete sich selbst. Ein Teil von ihr hatte ihren Körper verlassen und saß jetzt wie ein Vogel auf der Gardinenstange über dem Fenster und betrachtete die unwirkliche Szene. Warum weine ich nicht?, wunderte sie sich. Sie müsste schreien und sich die Haare raufen. Stattdessen saß sie bewegungslos neben dem, was gerade noch ihre Mutter gewesen war, sah sie an und hielt die Hand, die nur langsam kälter wurde, so, als wolle das Leben noch nicht ganz aus ihr entweichen.
Jella wunderte sich über ihre Gefühllosigkeit. Dabei war Rachel für sie der wichtigste Mensch auf Erden. Was war nur los mit ihr? Waren mit Rachels Tod etwa auch die Gefühle verschwunden? Ihr war, als stünde sie allein auf einem unendlich großen Exerzierplatz.
Weit und breit war kein Mensch. Sie war allein mitten auf diesem schrecklichen Kasernenhof, vergessen und ohne Bezugspunkt zu ihrer Umwelt. Das Gefühl der Einsamkeit war ihr nicht unbekannt. Schließlich war sie schon immer eine Außenseiterin gewesen. Sie hatte das noch nie für einen Nachteil gehalten. Im Gegenteil. Ihre Beharrlichkeit und der unerschütterliche Glaube, alles erreichen zu können, was sie sich in den Kopf setzte, hatten sie so erfolgreich gemacht. Sie konnte es allen zeigen - wenn sie wollte!
Oder doch nicht?
Zweifel schlüpften auf einmal wie Schlangen aus ihrem Nest. Sie krochen durch ihre Gehirnwindungen und nisteten sich in ihren Gedanken ein. Woher nahm sie diese anmaßende Gewissheit? Weshalb zum Teufel glaubte sie überhaupt daran, dass sie alles allein schaffen konnte? War es nicht ihre Mutter gewesen, die ihr durch ihre Zuversicht und Wärme die nötige Kraft und Stärke gegeben hatte? Wer war sie schon ohne sie? Ein Nichts.
Verdammt.
Wie fremd ihre Mutter plötzlich aussah! Wie ein Donnerschlag packte sie die Erkenntnis. Ihre Augen blickten immer noch starr, als durchbohrten sie die Zimmerdecke. Auf ihrem Gesicht war das warme Lächeln zur Maske erstarrt. Die Gesichtszüge wirkten entspannt und friedlich, und doch war etwas darin, was Jella zutiefst kränkte. Es war das Lächeln, an dem sie nicht mehr teilhaben durfte. Zum ersten Mal in ihrem Leben schloss ihre Mutter sie von etwas aus. Von ihrem Lächeln, von ihrer Wärme - von ihrem Tod.
Jella fühlte plötzlich, wie etwas ihre Kehle zudrückte und mit eiskalten Händen nach ihrem Herzen griff. Ihr Magen krampfte sich zusammen und verdichtete sich zu einem steinernen Kloß. Als die Verkrampfung nachließ, kämpfte sich endlich die erste Welle heißen Schmerzes an die Oberfläche.
»Mutter!«, schrie Jella und warf sich verzweifelt über die Tote.
Das Angebot
Wolkenschwaden huschten über den blauen Himmel von Berlin und erzeugten ein bizarres Schattenspiel. Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten ließ die Städtelandschaft unwirklich erscheinen, so als knipse jemand nach beliebiger Laune das Licht an und wieder aus. Die ersten herbstlichen Stürme kündigten sich durch einzelne Windböen an. Sie wirbelten Staub und Blätter hoch und ließen sie in wildem Tanz über den Platz vor der Kirche fegen. Darauf folgte eine kurze Phase der Ruhe, in der sich kein Windhauch regte. Die neu erbaute Auferstehungskirche grenzte direkt an den ehemaligen Armen- und Pestfriedhof sowie die Friedhöfe der Georgen Parochialgemeinde und dem Friedhof der St.-Petri-Gemeinde. Jella betrat den mit roten Klinkern und braunen Formsteinen erbauten dreischiffigen Hallenbau mit seinen eisernen Säulen. Der Eingangsbereich war nach Western gerichtet, über ihm erhob sich der hohe viereckige Turm. Als Trauernde hatte sie keine Augen für die kunstvoll arrangierten romanischen Stilformen, die in Verbindung mit den Strebepfeilern von einem
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