Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
Endlich! Doktorand Gröhner war aber noch nicht fertig. »Ach ja«, meinte er beiläufig. »Und Ihre Mutter können Sie morgen auch mitbringen. Professor Koch hat in der Charité in seiner Abteilung noch ein Bett für sie frei. Er wird sich höchstpersönlich um ihr Wohlergehen kümmern.«
Zum ersten Mal seit vielen Monaten war es Jella leicht ums Herz. Spätabends, auf dem Weg von der Destille nach Hause, taten ihr zwar alle Knochen weh und sie war todmüde. Aber dennoch fühlte sie sich erleichtert und fast beschwingt. Nach all den schwierigen Monaten schien sich nun endlich einiges zum Besseren zu wenden. Sie verdiente mit ihrer Arbeit in der Destille ausreichend Geld, um die Miete und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihre Mutter und sie mussten keinen Hunger mehr leiden, und wenn
sie weiterhin sparsam waren, gelang es ihr vielleicht, ein paar Groschen für Sonderausgaben zurückzulegen. Jella liebäugelte mit einem Anatomieatlas, den sie im Schaufenster eines Antiquariats gesehen hatte. Sie würde ihn gut für ihr Studium gebrauchen können. Im Moment waren das noch Träume, aber wie es schien, begannen sie allmählich in erreichbare Nähe zu rücken. Doch zuerst musste sie Professor Koch beweisen, dass sie auch für anspruchsvollere Arbeiten durchaus geeignet war. Sie tauchte in die dunklen Schatten der Hinterhöfe ein und sog tief die frische, dunkle Nachtluft ein. Ein Hauch von Herbst und Moder schwang in der mitternächtlichen Luft mit. Die Tür zum Kellereingang öffnete sich mit dem ihr eigenen Schnarren und fiel, nachdem sie durchgeschlüpft war, mit einem kehligen Plopp wieder ins Schloss. Ob Rachel noch wach war? Jella hoffte, es. Ihre Mutter konnte oft nicht einschlafen, bevor sie ihre Tochter sicher zu Hause wusste. Wie sehr sie sich darauf freute, ihr von dem heutigen Tag zu erzählen! Endlich würde Rachel aus dem modrigen Loch ihrer Behausung herauskommen und eine ordentliche medizinische Versorgung in der Charité erhalten. Professor Koch würde ihr mit Sicherheit helfen können. Angeblich war er der Einzige, der außer Liegekuren noch andere Therapien für Schwindsüchtige kannte.
Jella tapste durch die Dunkelheit. Das Licht im unteren Teil des Treppenhauses war schon seit geraumer Zeit kaputt. Pischke hatte die Glühbirne absichtlich nicht ersetzt. Es war im Moment die einzige Art, wie er seinen Groll an ihnen beiden auslassen konnte. Jella tastete sich den modrigen Gang entlang, fühlte die Eingangstür zum Kohlenkeller und schließlich die Klinke zum Eingang ihres Zimmers. Durch das Schlüsselloch drang diffuses Licht in den Gang und erleichterte ihr die Orientierung. Sie drückte die Klinke und trat ein. Wie gewöhnlich erwartete sie, ihre Mutter halb schlafend im Bett liegend vorzufinden, neben sich die blakende Petroleumlampe, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen,
das ihr vor Müdigkeit auf die Brust gefallen war. Doch heute war das Bett leer und unbenutzt. Jella sah sich um und entdeckte zu ihrem Schrecken einen dunklen Schatten in der Nähe des Fensters. Sie eilte hin und erkannte ihre reglos daliegende Mutter. Panische Angst erfasste sie.
»Mutter«, rief sie verzweifelt. »Was ist mit dir? Wach bitte auf!« Einen quälenden Augenblick lang fürchtete sie, dass Rachel nicht mehr am Leben sein könnte. Sie war so bleich und reglos. Doch dann entdeckte sie zu ihrer großen Erleichterung, wie sich der Brustkorb ihrer Mutter leicht und unregelmäßig hob und senkte. Jella holte rasch ein Kissen und schob es unter ihren Kopf. Dann öffnete sie die Haken ihres Kleides und verschaffte ihr Luft. Schwerfällig hoben sich schließlich Rachels Augenlider. Sie blinzelte. Sobald sie Jella erkannte, huschte ein warmes Lächeln über ihr Gesicht. Sie wollte etwas sagen, doch in dem Moment erfasste ihren geschwächten Körper ein neuer Anfall. Blutige Schleimbrocken schossen aus ihrem Mund, noch bevor sie Zeit gehabt hätte, sich die Hand vor den Mund zu halten. Jella erschrak bis ins Mark. Rachels Augen verdrehten sich beim Husten, bis nur noch das Weiße ihres Augapfels zu sehen war. Sie rang nach Luft, wie ein Kätzchen, das man zum Ertränken in den reißenden Fluss geworfen hatte. Jella richtete ihren Oberkörper auf. Die Haut ihrer Mutter fühlte sich glühend heiß an, während ihr Körper vor Schüttelfrost bebte. Mit aller Kraft hielt sie ihre Mutter fest, versuchte sie vor den Folgen der schrecklichen Krankheit zu behüten. Sobald sich der Anfall gelegt hatte, half sie Rachel in
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