Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
verdunkelten den Himmel und stoben wieder auseinander. Noch einmal schwoll ihr Krächzen zu einem ohrenbetäubenden Lärm an, bevor sie wieder ins Nichts verschwanden. Jella starrte ihnen nach. Eine einzelne, grauschwarze Wolke hing vor der Sonne. Der Wind pustete auch sie davon. Das grelle Licht der Sonne traf Jella wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Für einen winzig kleinen Augenblick glaubte sie in ihrem Licht das Antlitz ihrer Mutter zu sehen.
Genauso plötzlich, wie der Spuk aufgetaucht war, so plötzlich war er auch wieder vorüber. Die Krähen und der Wind verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Jella war tief ergriffen. Zu gern wäre sie noch länger am Grab stehen geblieben, aber die Friedhofsbediensteten nahmen auf ihre Trauer keinerlei Rücksicht. Räuspernd und mit den Füßen scharrend, machten sie auf sich aufmerksam, bevor sie an das Grab traten und es mit gleichmäßigem Schaufeln zuschütteten. Der Anblick war für Jella unerträglich. Mit tränenverhangenen Augen machte sie sich auf den Heimweg. Sie war so in ihrer Trauer verloren, dass sie kaum mitbekam, wie ein Mann aus dem Schatten der großen Trauerweide trat. Zu spät erkannte sie ihren Großvater. Er trat ihr in den Weg.
Jella kämpfte mit der Wut und der Verbitterung, die sie für ihn empfand. Sie verzichtete auf eine Begrüßung.
»Was willst du hier?«
Entgegen seiner sonstigen anmaßenden Art wirkte Baron von Sonthofen unsicher und auch ein wenig verlegen. Er nahm seinen goldenen Zwicker von der Nase und drehte ihn unbeholfen in einer Hand. Dem Anlass gemäß trug er einen schwarzen Anzug, einen dunklen Überzieher und einen Zylinder. Jella beobachtete ihn misstrauisch. Er war alt geworden. Nicht, dass ihr das leidgetan hätte; sie stellte es lediglich fest. Seine grauen, struppigen Haare waren jetzt weiß, und die Falten um Mund und Augen hatten sich wie tiefe Ackerfurchen in sein Gesicht gegraben. Selbst die stahlblauen Augen hatten einiges von ihrer Strahlkraft verloren. Nur der Kaiserbart strotzte wie eh und je akkurat nach oben gezwirbelt unter seiner aristokratischen Nase.
»Ich wollte dir mein Beileid aussprechen«, fing er unsicher an. »Es war mir nicht klar, dass Rachel so krank gewesen war, sonst...«
»Spar dir deine geheuchelten Gefühlsregungen«, blitzte ihn Jella an. »Dich hat noch nie gekümmert, wie es meiner Mutter ging.«
»Das ist nicht wahr«, versuchte sich ihr Großvater zu verteidigen. »Ich habe sie jahrelang in meinem Haus wohnen lassen.«
»Ja, wie eine Sklavin«, entgegnete Jella verbittert. »Rachel durfte ja noch nicht einmal mit uns in einer Kutsche sitzen. Weißt du, wie demütigend das für sie gewesen sein muss?«
»Das hatte rein gesellschaftliche Gründe.«
»Du lügst. Es hat dir Spaß gemacht, sie zu quälen, weil du ihr die Schuld gegeben hast, dass mein Vater dich verlassen hat!«
Die Augen ihres Großvaters funkelten kurz in ihrer alten Härte auf.
»Ich verbitte mir, dass du so mit mir redest!«, empörte er sich. »Immerhin bin ich jetzt dein Vormund.«
Jella schnappte nach Luft. Daher wehte also der Wind. Ihr Großvater war nur gekommen, um seine Macht über sie zu demonstrieren. Nur weil sie noch nicht volljährig war, glaubte er über sie bestimmen zu können. Das war geradezu absurd! Nicht mal
an diesem schrecklichen Trauertag besaß er den Anstand, sie in Ruhe zu lassen.
»Lass mich in Ruhe«, brach es deshalb aus ihr heraus. »Ich will dich nie wiedersehen!«
Baron von Sonthofens Gesicht wurde eine Spur blasser. Jellas harter Ton traf ihn.
»Bitte hör dir wenigstens an, was ich dir zu sagen habe«, forderte er. »Ich sehe selbst ein, dass ich Fehler gemacht habe. Ich war zu streng zu dir, weil ich dein Bestes im Auge hatte. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass das nicht in Ordnung war.«
»Und warum kommst du dann erst jetzt damit an?« Jella war nicht bereit zu verzeihen.
»Weil ich erst durch deinen Brief erfahren habe, wo ihr lebt. Ich war immer der Meinung gewesen, dass ihr Berlin verlassen hättet. Hör mir zu! Ich werde dich zu nichts zwingen. Aber du bist mittellos und kannst nicht weiterhin allein in diesem Loch in der Andreasstraße wohnen. Komm zu mir zurück. Ich bitte dich darum.« Die Worte mussten ihren Großvater einige Überwindung gekostet haben. Immerhin war es ein Anfang. Jella sah den alten Herrn misstrauisch an.
»Du möchtest, dass ich zu dir zurückkomme?«
»Natürlich!«
»Und was soll ich dafür tun? Du hast doch einen
Weitere Kostenlose Bücher