Der Ruf der Kiwis
wenig schritt jemand ein, wenn zwei oder drei Männer sich das »Ticket« teilten. Gloria versuchte, alles so teilnahmslos über sich ergehen zu lassen wie die Gelüste der Männer auf der
Mary Lou
, aber das waren höchstens zwei oder drei pro Abend gewesen. Hier dagegen begann die Tortur am Morgen, wenn die Maschinisten und Heizer von der Nachtschicht kamen, und endete erst spät am Abend, nachdem auch die Küchencrew ihre Arbeit beendet hatte und Entspannung suchte. Bei fünfzehn Kunden und mehr pro Tag versagte die schützende Wirkung des Öls. Gloria wurde wund, und das nicht nur an den geheimen Stellen. Ihr Körper scheuerte auch an den groben Decken, gegen die sie immer wieder gestoßen wurde. Der Stoff riss ihre nackte Haut auf, und die Wunden entzündeten sich, da sie keine Möglichkeit hatte, sich zu waschen. Dazu war das improvisierte Deckenlager nach einigen Tagen verklebt und verkrustet vom Schmutz und den Körperflüssigkeiten unzähliger Männer, und frische Laken gab es nicht. Irgendjemand musste zudem Ungeziefer eingeschleppt haben, Gloria kämpfte gegen Wanzen und Flöhe. Am Anfang versuchte sie noch, dem wenigstens zeitweise zu entkommen, indem sie in eine der Kojen kletterte, wenn sie allein war und Zeit zum Schlafen fand. Das kam jedoch immer seltener vor, je länger die Reise währte, und am Ende fand sie tagelang keine Muße und keine Kraft mehr, das improvisierte Lager auf dem Boden zu verlassen. Ihr Körper war gefangen, doch Gloria klammerte sich an ihre geistige Gesundheit. Verzweifelt träumte sie sich fort aus ihrem dunklen Verlies, stellte sich vor, im Sonnenschein von Kiward Station Schafe zusammenzutreiben, verlor sich in der Weite der Canterbury Plains ... um sich dann doch wieder im Chorraum von Oaks Garden wiederzufinden, wo sie vor dem Klavier stand und beim Vorsingen kläglich versagte. Immer öfter wurden Tagträume zu Albträumen. Gloria merkte, dass sie fieberte, und versuchte, an irgendwelchen Vorstellungen festzuhalten, um nicht völlig abzudriften. Aber es wurde immer schwerer, klare Gedanken zu fassen oder sich gar angenehme Gefühle vorzustellen. Gefühl bedeutete Schmerz, Ekel und Selbsthass – wobei der Hass noch am wenigsten wehtat.
So konzentrierte Gloria sich immer mehr auf den Hass. Zuerst richtete sie diesen Hass auf den Steward. In den endlosen Stunden, wenn ein Freier nach dem anderen über sie herfiel, stellte sie sich vor, ihn zu töten. Immer und immer wieder. Auf diese oder jene Art, je grausamer, desto besser. Schließlich übertrug sie den Hass auch auf die Freier. Sie malte sich aus, wie das Schiff unterging und sie alle ertranken. Noch besser war ein Brand, der ihre stinkenden Körper verschlang. Gloria meinte, ihre Schreie zu hören ... Wenn ein Mann über ihr stöhnte, träumte sie davon, dass es Schmerz statt Lust war. Sie wünschte alle diese Kerle zur Hölle. Nur das gab ihr die Kraft, ihre Demütigung zu überleben.
In der Enge und Dunkelheit ihrer Kabine verlor sie schließlich jedes Zeitempfinden. Sie hatte das Gefühl, seit einer Ewigkeit auf dem Schiff zu sein und bis zum letzten Tag weiter in ihrem Hass baden zu müssen. Aber dann grinste sie eines Tages einer der wenigen Männer an, die für sie noch ein Gesicht hatten.
»Letztes Mal heute!«, erklärte der junge Heizer. Er war Australier und unterschied sich für Gloria dadurch von seinen Kollegen, dass er sich vor dem Besuch bei ihr zumindest notdürftig wusch. »Morgen sind wir in Darwin.«
»In ... Australien?«, fragte Gloria. Sie hatte eben noch in einem hasserfüllten Albtraum unter ihm gelegen, aber jetzt schlug seine Stimme eine lang verstummte Saite in ihr an. Fast ungläubig verspürte sie Hoffnung.
»Wenn wir uns nicht arg verfahren haben!« Der Mann grinste. »Musst nur sehen, wie du von Bord kommst. Die Einwanderungsbehörden sind ganz schön streng, da wird jeder registriert.«
»Der ... der Steward wird mich schon rausschmuggeln«, bemerkte Gloria, noch immer fassungslos.
Der Heizer lachte. »Da würd ich mich mal nicht drauf verlassen! Mensch, Mädchen, der hat doch kein Interesse, dich freizugeben! Wie der dich hier hält ... wie ein Vieh! Wir von der Mannschaft haben schon überlegt, dem Hafenmeister einen Tipp zu geben. Besser sie schieben dich ab, als dass du hier verreckst!«
»Du ... du meinst ...« Gloria setzte sich mühsam auf.
»Ich meine, dass sich in dem Moment, in dem wir Darwin erreichen, ein Schlüssel in dieser Tür drehen wird«, erklärte der Mann
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