Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
Vom Netzwerk:
los. Wir müssen noch ein paar Klamotten für dich kaufen, meine Kunden stehen nicht auf Männerkleidung ...«
    Gloria ließ fassungslos zu, dass Harry sie zum Abschied umarmte. Dabei ließ er unauffällig zehn Dollarscheine in ihre Tasche gleiten.
    »Nichts für ungut, Süße!«, bemerkte er augenzwinkernd. »Mach einen guten Job, dann wird man dich auch gut behandeln. Und in ein paar Wochen zählst du wieder Schäfchen in Kiwiland ...«
    Harry wandte sich ab. Gloria meinte, ihn pfeifen zu hören, als er das Teezimmer verließ.
    »Heul ihm bloß nicht nach«, bemerkte der Steward. »Der hat sich an dir ’ne goldene Nase verdient. Und jetzt los, wir haben’s eilig. Heute Nacht geht’s nach Down Under!«
     

9
    In den nächsten Wochen durchlebte Gloria die Hölle. Der »Job« auf der 
Niobe
 war nicht im mindesten vergleichbar mit dem, was sie auf der 
Mary Lou
 getan hatte. Harrys Mannschaftskollegen waren zwar schmutzig und oft auch grob gewesen, aber im Großen und Ganzen hatten sie Gloria doch mit Freundlichkeit behandelt, und in gewisser Hinsicht herrschte auch so etwas wie Komplizenschaft. Die Männer verbargen »ihr Mädchen« vor den Offizieren, und alle hatten eine diebische Freude daran, tagsüber den Schiffsjungen »Jack« um sich zu haben und zu necken. Niemand hatte jemals versucht, ihr absichtlich wehzutun.
    Auf der 
Niobe
 war es ganz anders, obwohl die Sache sich zuerst gut anzulassen schien. Es dämmerte schon, als der Steward Gloria zum »Australien-Dock« führte, wie er es nannte – der Name der Chinesen für die Stadt und Hafenanlagen war unaussprechlich. Gloria fragte sich trotzdem, wie er einen fremden Jungen oder gar ein weißes Mädchen aufs Schiff schmuggeln wollte, aber das gestaltete sich dann als einfach. Tatsächlich wimmelte es an Land und an Deck nur so vor auswanderungswilligen Chinesen. Sie schienen kaum Gepäck mitzunehmen; die meisten schleppten ihre Habe in einem kleinen Bündel an Bord. Die Schifffahrtsgesellschaft musste wohl darauf spekulieren und hatte sehr viel mehr Billets verkauft als auf anderen Auswandererschiffen üblich. Da keinerlei Koffer und Kästen unterzubringen waren, teilten sich die kleinen gelben Leute nicht zu sechst die Kabinen, sondern quetschten sich zu zehnt oder zu zwölft in eine der winzigen Unterkünfte. Und zu Glorias Verblüffung und späterem Entsetzen waren es fast ausschließlich Männer. Höchstens zweien oder dreien von ihnen trippelten zarte, kleine Frauen hinterher.
    »Warum?« Gloria schaffte es nicht, ihre Schüchternheit zu überwinden und die Frage auszusprechen, aber der Steward antwortete trotzdem.
    »Ist verboten«, erklärte er knapp. »Zumindest in den Staaten, da dürfen nur Kaufleute ihre Weiber mitbringen, keine Arbeiter. Und die Australier bürgern sowieso keine Asiaten mehr ein, also wäre die Lady nur unnötiger Ballast. Die Kerle lassen die Familien hier und schicken lieber Geld. Das kommt billiger. Ein Dollar ist in Down Under schnell weg, aber hier ist das ein Vermögen ...«
    Während er sprach, lotste er Gloria durch das Menschengewimmel an Deck. Kein Mensch störte sich an dem Schiffsjungen ohne Reisepapiere. Der Strom der kleinen gelben Menschen teilte sich wie selbstverständlich vor dem hochgewachsenen Weißen in Uniform und schloss sich dahinter wieder. Gloria hätte das Gefühl gehabt, sich auf einer beweglichen Insel zu befinden, wäre die Geräuschkulisse nicht gleich geblieben. Das Reden, Lachen und Weinen der Chinesen dröhnte in ihren Ohren. Es war störender als das Vibrieren der Maschinen auf der 
Mary Lou
, denn es gab keinen Rhythmus darin. Noch Wochen später sollte die Erinnerung daran Gloria Kopfschmerzen verursachen.
    »Hier, das ist dein Reich!« Der Steward war inzwischen mit Gloria in den Bauch des Schiffes abgetaucht. Sie durchquerten dunkle, enge Gänge zwischen den Kabinen, in denen zum Teil Nahrungsmittel lagerten. Die Männer hatten sich anscheinend wenigstens Verpflegung mitgebracht. Gloria schauderte, wenn sie an den möglichen Inhalt der Pakete dachte.
    Wieder schien der Steward ihre Gedanken zu lesen.
    »Nur Reis, kein Hund«, beruhigte er sie. »Die Kerle hier können sich Fleisch gar nicht leisten. Aber ihr Reis ist ihnen heilig, und sie haben wohl gehört, dass die Verpflegung hier ... nun ja, sich mehr an westlichen Mägen orientiert, wenn man bei dem Fraß überhaupt von Verpflegung reden kann ...«
    Während er sprach, schob er Gloria in eine der Kajüten. Es gab sechs schmale

Weitere Kostenlose Bücher