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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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immerhin war es ruhig. Und die Lichter der Stadt waren bereits gut zu sehen; es konnte nicht allzu weit sein. Das Schiff schien sich auch kaum noch zu bewegen. Wartete man vielleicht auf einen Lotsen, der die 
Niobe
 in den Hafen führen sollte? In diesem Fall bestand wenigstens keine so große Gefahr, in die Schiffsschraube zu geraten und zerrissen zu werden. Andererseits konnte der Lotse die Schwimmerin aufgreifen. Aber zuerst würde sie springen müssen. Gloria erschauerte vor der Höhe. Sie war seit Jahren nicht mehr geschwommen. Und ins Wasser gesprungen war sie sowieso noch nie.
    Aber dann hörte sie Stimmen. Irgendjemand kam an Deck, eher Besatzungsmitglieder als Passagiere, aber das war egal. Wenn sie Gloria fanden, war ihr Schicksal besiegelt. Egal, ob man sie zu Seaton zurückbrachte oder dem Kapitän vorführte.
    Gloria holte tief Luft. Dann warf sie ihr Bündel voraus und sprang.
     
    Vom Schiff aus hatten die Strände von Darwin zum Greifen nahe gewirkt, aber Gloria schien dem Land nicht wirklich näher zu kommen. Sie hatte das Gefühl, seit Stunden zu schwimmen. Wenigstens war sie inzwischen frei von Angst. Sie hatte sich an das kühle Wasser gewöhnt. Die Kleider störten zwar, doch es war zu schaffen. Ihre Sachen hatte Gloria sich auf den Rücken gebunden – sie in der Hand zu behalten hatte sie beim Schwimmen behindert. Und es war angenehm, nach all der Zeit in der dreckigen Kabine von Wasser umspült zu werden. Gloria hatte das Gefühl, als wasche der Ozean nicht nur den Schmutz, sondern auch die Schande von ihr ab. Ab und zu tauchte sie das Gesicht ins Wasser und dann, mutig geworden, auch Kopf und Haar. Sie versuchte, so lange unter Wasser zu bleiben, bis die Läuse ertranken. Die Flöhe waren bestimmt schon tot. Sie musste beinahe lachen. Und schwamm immer weiter.
     
    Gloria brauchte eine Nacht und einen halben Tag, bis sie sich endlich an einem einsamen Strand unterhalb Darwins an Land geschleppt hatte. Später erfuhr sie, dass man ihn Casuarina nannte und dass es dort Salzwasserkrokodile gab. Aber die Tiere ließen sich nicht blicken, und Gloria war so müde, dass sie sich davon auch kaum hätte abhalten lassen, in den Sand zu sinken und zu schlafen.
    Am Ende war sie unterkühlt und so völlig erschöpft gewesen, dass sie kaum noch Schwimmbewegungen hatte machen können. Sie hielt sich gerade noch so über Wasser, und dann half ihr der gegen Mittag auffrischende Wind von See und die dadurch aufkommende Brandung. Der Sand war bereits aufgewärmt von der Sonne, er trocknete Glorias Sachen am Körper, während sie schlief.
    Als sie erwachte, wurde es bereits Abend. Ein wenig benommen setzte das Mädchen sich auf. Es war geschafft. Sie war dem Steward und der Hafenpolizei entkommen. Offensichtlich rechnete niemand damit, dass jemand von China nach Australien schwamm. Gloria hatte schon wieder das Bedürfnis, hysterisch zu kichern. Sie war am Ziel ... am anderen Ende der Welt. Nur noch zweitausendsechshundert Meilen von Neuseeland entfernt. Wenn man den halben Erdball nicht mitrechnete, der sich zwischen Darwin und Sydney erstreckte. Gloria wusste nicht, ob zwischen dem Northern Territory und der Südinsel Neuseelands Schiffe verkehrten, aber von Sydney aus konnte man nach Lyttelton reisen. Sie dachte an Grandpa James, den man damals, als Viehdieb, von den Canterbury Plains nach Botany Bay geschickt hatte. Anschließend hatte er sich zu den Goldfeldern durchgeschlagen und war mit recht ansehnlichen Gewinnen nach Hause zurückgekehrt. Gloria fragte sich, ob in Australien überhaupt noch geschürft wurde, und wenn, dann wo. Aber für sie war das ohnehin keine Lösung. Zwar war sie fest entschlossen, bis zur Rückkehr nach Hause »Jack« zu bleiben, aber auch als Junge graute es ihr vor einem Camp voller Männer.
    Plötzlich verspürte Gloria nagenden Hunger. Das Problem musste als Erstes gelöst werden, selbst wenn es bedeutete, irgendetwas Essbares zu stehlen. Aber dazu musste sie in die Stadt ... und ihre Kleider waren noch klamm; es würde auffallen, wenn sie wie eine nasse Katze durch die Straßen lief.
    Gloria zog den Wollpullover aus und breitete ihn im Sand aus. Hemd und Hose auszuziehen, wagte sie nicht, so menschenleer der Strand auch schien. Aber die Taschen konnte sie umstülpen, damit sie schneller trockneten. Sie tastete sich durch den klammen Stoff und fühlte feuchtes Papier ...
    Als Gloria es herauszog, blickte sie fassungslos auf die zehn Dollarnoten, Harrys »Abschiedsgeschenk«.

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