Der Ruf der Kiwis
zu freundlich werden können«, bemerkte der Reverend grimmig. »Du kannst Gott danken, unbeschadet an Leib und Seele da herausgekommen zu sein!«
Gloria verstand nicht, was er meinte, errötete jedoch.
Der Reverend nickte verständnisvoll. »Du bist offensichtlich ein guter Junge«, schloss er aus Glorias anscheinend noch vorhandenem Schamgefühl. »Solltest dir aber die Haare schneiden lassen. Heute Nacht schläfst du erst mal hier, dann sehen wir weiter.«
Bei so viel Freundlichkeit hatte Gloria fast auf ein Einzelzimmer gehofft, aber natürlich erwies sich die Männerpension als Schlafsaal. Fünf Etagenbetten waren in einem kleinen, ungemütlichen Raum zusammengepfercht; den einzigen Schmuck bildete ein Kruzifix an der Wand. Gloria suchte sich ein Bett in der äußersten Ecke und hoffte, möglichst wenig gestört zu werden, aber mit fortschreitendem Abend füllte der Raum sich mit »Gästen« verschiedenen Alters. Erneut fand sich Gloria in einem Albtraum aus Gestank nach ungewaschenen Körpern und Männerschweiß. Immerhin roch es nicht nach Whiskey; das schien der Reverend zu kontrollieren. Ein paar der Männer spielten Karten, andere unterhielten sich. Ein älterer Mann, der die Koje gegenüber Glorias bezogen hatte, versuchte auch sie in ein Gespräch zu ziehen. Er stellte sich als Henry vor und fragte sie nach ihrem Namen. Gloria antwortete einsilbig, noch mehr auf der Hut als im Gespräch mit dem Reverend. Das erwies sich als berechtigt. Henry, offenbar ein Seemann, schluckte die Geschichte nicht so fraglos wie der unbedarfte Geistliche.
»Ein Schiff von New York nach Darwin? Das gibt’s doch gar nicht, Junge! Das müsste ja um die halbe Welt segeln ...«
Gloria errötete. »Ich ... sie ... sie wollten vorher noch nach Indonesien«, druckste sie. »Irgendwas einladen ...«
Henry runzelte die Stirn, begann dann aber seinerseits mit Geschichten von seinen Fahrten, die alle mit seiner offenbar unendlichen Einsamkeit an Bord zu tun hatten. Gloria hörte kaum hin. Sie bereute schon, gekommen zu sein, obwohl »Jack« natürlich keine Gefahr drohte.
Oder doch? Als die Öllampen, die bisher für funzeliges Licht gesorgt hatten, endlich gelöscht waren und Gloria sich zusammenrollte, um zu schlafen, spürte sie das vorsichtige Streicheln einer Hand an ihrer Wange. Sie musste sich bezähmen, nicht aufzuschreien.
»Hab ich dich geweckt, Jacky?« Henrys für einen Mann ziemlich hohe Stimme war nah an ihrem Gesicht. »Ich hab mir gedacht, so ein süßer Junge ... vielleicht hältst du mich ein bisschen warm heut Nacht ...«
Gloria fuhr voller Panik auf.
»Lassen Sie mich in Ruhe!« Sie wisperte scharf, wagte nicht zu schreien. In ihrer erhitzten Fantasie fürchtete sie, dass dann womöglich alle über sie herfielen. »Verschwinden Sie! Ich will allein schlafen!«
»Ich erzähl dem Reverend auch nichts von dem Schiff nach Darwin ... der mag’s nämlich nicht, wenn man ihn anlügt ...«
Gloria zitterte. Im Grunde war es ihr egal, was der Kerl dem Reverend erzählte; sie wollte sowieso nur noch weg. Aber wenn er sie zwang, »nett zu ihm zu sein«, würde ihre Tarnung auffliegen. Wenn die Männer hier herausfanden, dass sie ein Mädchen war ... Mit dem Mut der Verzweiflung zog sie ihr Knie an und stieß es dem Mann mit aller Kraft zwischen die Beine.
»Verzieh dich!«, brüllte sie ihn an.
Zu laut. Jetzt regten sich die Männer um sie herum. Doch zu ihrer Verwunderung ergriffen sie für »Jack« Partei.
»Henry, du Schwein, lass den Jungen in Frieden! Du hörst doch, der will nichts von dir!«
Henry stöhnte, und Gloria gelang es, ihn von ihrem Bettrand zu stoßen. Anscheinend landete er dabei auf Tuchfühlung mit jemand anderem.
»Haste noch nicht genug, du schwuler Mistkerl? Kannst dir hier auch noch Prügel abholen ...«
Gloria begriff das alles nicht, atmete aber erst einmal auf. Risiken mochte sie allerdings nicht mehr eingehen. Sie verzog sich mit ihrem Bettzeug auf den immerhin ordentlich geschrubbten Abtritt und legte den Riegel vor. Dann hüllte sie sich so weit entfernt von den Pissoirs wie eben möglich in ihre Decke. Am Morgen verließ sie den Kirchenbereich, noch bevor jemand erwachte. Eine Spende ließ sie nicht zurück. Stattdessen suchte sie den nächsten Laden auf und investierte drei ihrer kostbaren Dollars in ein Messer und eine Scheide, die sie am Hosenbund befestigen konnte. Wenn sie sich in Zukunft schlafen legte, dann nur noch mit der Waffe in der Hand.
Als Nächstes waren die
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