Der Ruf der Kiwis
damals auch nicht geschadet!«, bemerkte sie. Elaines Verhältnis zu ihrer Cousine hatte sich erst kurz vor Kuras Abreise nach Europa entspannt. »Im Gegenteil, bei der wär’s noch dringlicher gewesen. Aber im Grunde ist es das gleiche Problem: Diese Prinzessinnenerziehung mit Hauslehrerin und Einzelunterricht tut den Kindern nicht gut. Kura hat es Flausen in den Kopf gesetzt, und Gloria verwildert. Mag ja sein, dass es ihr unter all den Viehtreibern, Pferden und Schafen gefällt. Aber sie ist ein Mädchen, Granny Gwyn. Und schon im Interesse der weiteren Erbfolge auf Kiward Station wird es Zeit, dass sie sich dessen bewusst wird.«
Bislang schien hier allerdings kein besonderer Schaden angerichtet. Nach zwei Tagen mit der lebhaften Lilian taute Gloria auf, und die Mädchen verstanden sich bestens. Tagsüber strolchten sie über die Farm und ritten um die Wette; abends schmiegten sie sich in Glorias Bett aneinander und tauschten Geheimnisse aus – die Lilian am nächsten Tag gleich ausplauderte.
Miss Bleachum wusste schon wieder nicht, wo sie hinschauen und wie schnell sie erröten und erbleichen sollte, als die Kleine ihr Liebesleben ansprach.
Lilian hingegen war gar nichts peinlich. »Das ist so aufregend, über den Ozean zu fahren, weil man einen Mann liebt, den man noch nie gesehen hat«, plapperte sie. »So wie in
John Riley!
Kennen Sie das, Miss Bleachum? John Riley fährt sieben Jahre zur See, und seine Liebste wartet auf ihn. Sie liebt ihn so sehr, dass sie sagt, sie wäre ebenfalls gestorben, wenn er umgekommen wäre ... und dann erkennt sie ihn erst gar nicht, als er wiederkommt. Haben Sie eine Fotografie von Ihrem Liebst ... äh ... von Ihrem Cousin, Miss Bleachum?«
»Die Tochter der Barpianistin!«, neckte James seine schockierte Enkelin Elaine, die ihrerseits rot wurde. Schließlich hatte Lilian sich ausgerechnet den gemeinsamen Abendbrottisch ausgesucht, um Miss Bleachum zu examinieren. »Diese Lieder hat sie doch von dir!«
Elaine hatte vor ihrer Ehe mit Tim einige Jahre im Lucky Horse – Hotel und Pub Klavier gespielt. Sie war entschieden musikalischer als ihre Tochter, aber Lilian hatte ein Faible für die Geschichten hinter den Balladen und Folksongs, mit denen Elaine die Bergleute damals unterhalten hatte. Sie liebte es, sie auszuschmücken und weiterzuerzählen.
Elaine gebot ihrer Tochter jetzt erst einmal Einhalt.
»Lily, solche Fragen gehören sich nicht! Das sind Privatangelegenheiten, über die Miss Bleachum dich nicht aufklären muss. Entschuldigen Sie, Miss Bleachum.«
Die junge Gouvernante lächelte, wenn auch etwas gequält. »Lilian hat ja Recht, es ist eigentlich kein Geheimnis. Mein Cousin Christopher und ich führen einen regen Briefwechsel, seit wir Kinder waren. In den letzten Jahren sind wir uns dabei ... nun ja ... nähergekommen. Ich besitze ein Bild von ihm, Lilian. Ich werde es dir auf dem Schiff zeigen.«
»Und wir alle drei zusammen erkennen ihn dann auch!«, tröstete Gloria. In ihren Unterrichtsstunden trug Miss Bleachum eine dicke Brille, die sie in Gesellschaft allerdings schamhaft abzunehmen pflegte. Insofern konnte Gloria die Überlegung, ihre Lehrerin würde womöglich blind an dem Mann ihres Lebens vorbeilaufen, durchaus nachvollziehen.
Gwyneira dankte im Stillen dem Himmel für Miss Bleachums pädagogisches Geschick. Wenn Gloria in der letzten Zeit etwas fragte oder um etwas bat, vertröstete ihre Gouvernante sie auf die Reise nach England. Auf dem Schiff, sagte sie, würde sie diese oder jene Geschichte erzählen, dieses oder jenes Buch vorlesen und nun sogar das Foto ihres Geliebten zeigen. Das alles führte dazu, dass Gloria sich tatsächlich auf die Reise freute. Was Lilian betraf, schwärmte sie schon wochenlang vom Meer, von den Delfinen, die man sehen und den Wellen, auf denen man reiten würde. Allerdings redete sie auch von Piraten und Schiffsuntergängen – ein bisschen Gefahr schien für Lilian die Würze der Reise auszumachen.
Gwyneira wünschte sich nichts sehnlicher als ein glückliches Zusammentreffen zwischen Sarah und Christopher Bleachum. Wenn die junge Frau wirklich den Reverend der Gemeinde heiratete, zu dem Glorias Schule gehörte, hätte das Mädchen eine vertraute Erwachsene in der Nähe. Vielleicht würde alles nicht so schlimm werden, wie sie zunächst gedacht hatte.
Gwyneira zwang sich zu einem Lächeln, als die Mädchen schließlich in die Kutsche stiegen, mit der Jack sie zum Schiff bringen wollte. Elaine fuhr
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