Der Ruf der Kiwis
führte das Mädchen zu einem Sofa in der Eingangshalle, setzte sich und zog es neben sich. Sie hielt Gloria fest an sich gedrückt, während sie weinte, weinte und weinte.
Mrs. Lancaster stand fassungslos da.
»Armes Mädchen«, murmelte sie. »Hat sie denn keine Mutter?«
Sarah sah auf und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Das ist eine lange Geschichte ...«, sagte sie müde.
Gloria weinte die ganze Nacht und den nächsten halben Tag. Zwischendurch fiel sie völlig erschöpft in kurzen Schlummer, um gleich wieder zu schluchzen, wenn sie erwachte. Sarah und Mrs. Lancaster hatten es irgendwann geschafft, sie die Treppe hoch und in Sarahs Zimmer zu führen. Mrs. Lancaster schickte schließlich Suppe und Brot für beide hinauf. Gloria schlang das Essen herunter, um sich dann wieder an Sarah zu klammern und erneut zu weinen.
Mrs. Lancaster – ein gänzlich anderer Typ der Schulleiterin als die strenge Miss Arrowstone – stellte Sarah am nächsten Tag frei. So saß die Lehrerin neben Gloria, bis das Mädchen endlich zu schluchzen aufhörte und in tiefen Schlaf sank.
Sarah Bleachum deckte sie zu und klopfte an die Tür der Rektorin. Mrs. Lancaster saß an ihrem penibel aufgeräumten Schreibtisch und trank Tee. Sie bot Sarah einen Platz an und holte eine Tasse für sie aus einem hübschen Wandschrank ihres wohnlich eingerichteten Büros.
»Ich sollte ein Telefongespräch führen«, erklärte Sarah und nippte an ihrem Tee. »Aber ich bin mir nicht sicher ...«
»Sie sind völlig übermüdet, Sarah«, meinte die Rektorin und schob einen Teller Teekuchen zu ihr hinüber. »Vielleicht legen Sie sich erst noch etwas hin. Ich kann ja die Familie benachrichtigen ... Sagen Sie mir nur, wo ich die Großeltern des Mädchens erreiche.«
Sarah zuckte die Schultern. »Vielleicht möchte sie das gar nicht. Verstehen Sie mich richtig, Gloria hat hier Verwandte, die wirklich an ihr hängen. Aber es wurde so oft über ihren Kopf hinweg entschieden. Ich würde lieber warten, bis sie ganz bei sich ist.«
»Was meinen Sie denn, was mit ihr geschehen ist?«, fragte die Rektorin. »Wer ist das Mädchen überhaupt? Eine frühere Schülerin von Ihnen, so viel habe ich schon verstanden. Aber wo kommt sie her?«
Sarah Bleachum seufzte. »Kann ich noch einen Tee haben?«, erkundigte sie sich. Und dann erzählte sie die gesamte Geschichte von Kura und Gloria Martyn.
»Zuletzt hat sie es wohl nicht mehr ausgehalten und ist weggelaufen. Was ihr allerdings auf der Reise und in Australien zugestoßen ist, entzieht sich meiner Kenntnis«, endete die Lehrerin schließlich. »Ich weiß von Mrs. McKenzie, dass sie ohne Geld und ohne Gepäck, nur mit ihrem Reisepass, aus dem Hotel ihrer Eltern geflohen ist. Den Rest kann nur sie uns erzählen. Und bis jetzt weint sie ja nur.«
Mrs. Lancaster nickte bedächtig. »Am besten fragen Sie auch gar nicht. Sie wird reden, wenn sie es über sich bringt. Oder sie wird schweigen.«
Sarah runzelte die Stirn. »Aber sie muss es doch irgendwann erzählen! So schrecklich kann es nicht gewesen sein, dass sie es ewig für sich behält ...«
Mrs. Lancaster errötete leicht, schlug die Augen aber nicht nieder. Sie war nicht von Jugend an Lehrerin gewesen, sondern hatte erst geheiratet und mit ihrem Mann in Indien gelebt, bevor er starb und sie mit seinem Nachlass die Mädchenschule gründete. Jane Lancaster war alles andere als weltfremd.
»Sarah, denken Sie doch nach! Ein Mädchen, ohne Geld, ohne Hilfe, das sich ganz allein durch die halbe Welt schlägt ... Vielleicht wollen Sie gar nicht wissen, was das arme Ding erlebt hat. Es gibt Erinnerungen, mit denen man nur leben kann, wenn man sie mit niemandem teilt ...«
Sarah errötete zutiefst. Sie schien eine Frage stellen zu wollen, aber dann schlug sie die Augen nieder.
»Ich frage sie nicht«, flüsterte sie.
Als Gloria am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich besser, aber völlig leer. Nach wie vor fehlte ihr die Energie, irgendetwas zu tun oder zu entscheiden, und sie war dankbar, dass Sarah ihr Zeit ließ. In diesen ersten Tagen folgte sie der Lehrerin wie ein Hündchen. Wenn Sarah ältere Schülerinnen unterrichtete, ließ sie Gloria einfach mit in die Klasse und hoffte, sie für den Unterricht interessieren zu können. Die Princess Alice School for Girls unterschied sich wesentlich von Oaks Garden. Hier standen wissenschaftliche Fächer im Mittelpunkt. Alles zielte darauf hin, die Mädchen auf einen Besuch der Universität von
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