Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
Vom Netzwerk:
mit 
moko
 bedeckt, den traditionellen Tätowierungen seines Volkes. Gewundene Linie zogen sich über seine Augenbrauen, von der Nase ausgehend über seine Wangen und in Kaskadenform entlang seines Kinns. Gloria kannte diesen Schmuck, Tamatea pflegte ihn Kuras Tänzern jeden Abend aufzuschminken, und auch Marama und ihre Leute pinselten sich die 
moko
 auf, bevor sie 
haka
 aufführten oder auch nur unter sich feierten. Dann trugen sie jedoch auch die traditionellen Kostüme aus gehärteten Flachsblättern. Dieser Junge dagegen trug Denimhosen und Flanellhemd wie ein Farmarbeiter. Darüber eine abgetragene Lederjacke.
    »Du bist Wiremu ...«, sagte Gloria.
    Der Mann nickte, ohne einen Anflug von Erstaunen zu zeigen, dass sie ihn erkannte. Dem Sohn des Häuptlings stand sein Name auf der Stirn geschrieben. Niemand anders in seiner Generation war tätowiert. Die Maoris auf der Südinsel hatten nach Ankunft der 
pakeha
 sehr schnell mit dieser Tradition gebrochen. Sie passten sich in Kleidung und Aussehen bereitwillig den Weißen an, um damit auch an deren höherem Lebensstandard teilzuhaben. Das Leben auf Te waka a Maui war immer hart gewesen, und die pragmatischen Ureinwohner tauschten alte Bräuche, die den 
pakeha
 Furcht erregend schienen, gern gegen Arbeit auf den Farmen, Saatgut, Essen und Wärme. Auch Bildungsangebote nahmen sie bereitwillig an – Tongas Vater hatte größten Wert darauf gelegt, seinen Sohn in Helen O’Keefes Schule zu schicken. Tonga selbst beharrte allerdings darauf, Maori zu sein und zu bleiben. In seiner Opposition gegen die Wardens hatte er sich noch als Erwachsener die Zeichen seines Stammes in die Haut ritzen lassen. Und seinen jüngsten Sohn hatte er von klein auf damit gezeichnet.
    Wiremu warf ein weiteres Holzscheit in die Flammen.
    »Du darfst hier kein Feuer anzünden!«, beschied Gloria ihm. »Der Platz ist 
tapu!
«
    Wiremu schüttelte den Kopf. »Ich darf hier nichts essen«, stellte er richtig. »Würde ich länger bleiben, müsste ich hungern. Aber niemand zwingt mich, bei der Zwiesprache mit den Geistern zu frieren.«
    Gloria versuchte, an ihrem Zorn festzuhalten, aber sie konnte nicht anders als zu lächeln. Sie lenkte ihr Pferd in den Kreis und war dankbar dafür, dass Wiremu auf eine Diskussion ihres Tuns verzichtete. Sie war sich keineswegs sicher, ob das 
tapu
 die Anwesenheit von Reitern gestattete.
    »Wolltest du nicht auf die Universität?«, fragte sie. Sie erinnerte sich dunkel an einen Brief von Grandma Gwyn. Wiremu hatte eine Highschool in Christchurch besucht und sollte anschließend das Christ College oder die Universität in Dunedin besuchen. Seine Noten hatten ausgereicht, und zumindest Dunedin sperrte sich auch nicht dagegen, den Häuptlingssohn anzunehmen.
    Wiremu nickte. »Ich war in Dunedin.«
    »Aber?«, fragte Gloria.
    »Ich hab’s aufgegeben.« Wiremus Hand fuhr wie beiläufig über seine Tätowierungen.
    Gloria fragte nicht weiter. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Leute einen anstarrten. Es machte sicher keinen Unterschied, ob sie es taten, weil man seiner Mutter nicht ähnlich sah oder weil man dem Bild seines Volkes einfach zu sehr glich.
    »Und was machst du jetzt?«, erkundigte sie sich.
    Wiremu hob die Schultern. »Dies und das. Jagen. Fischen. An meinem 
mana
 arbeiten ...«
    Das 
mana
 eines Maori-Mannes bestimmte seinen Einfluss innerhalb des Stammes. Wenn Wiremu sich nicht nur durch Klugheit, sondern auch in den Tugenden des Kriegers, denen des Tänzers, Geschichtenerzählers, Jägers und Sammlers auszeichnete, konnte er durchaus Häuptling werden. Wobei es egal war, ob er der jüngste oder älteste Sohn war. Selbst ein Mädchen konnte einen Stamm führen, aber das kam selten vor. Die meisten Frauen bildeten bei den Maoris – wie bei den 
pakeha
 – eher die Macht hinter einem »Thron«.
    Gloria dachte flüchtig daran, dass bei den Maoris alles leichter war. Bis zur Ankunft der 
pakeha
 hatten sie Landbesitz nicht gekannt – und was einem nicht gehört, kann man nicht vererben. Auch Frauen galten nicht als Eigentum; man konnte sie nicht erwerben und nicht verkaufen. Kinder gehörten dem ganzen Stamm, nannten jede junge Frau Mutter, jede ältere 
taua
 – Großmutter. Jedermann liebte sie.
    Aber das hatte Wiremu auch nicht davor geschützt, von seinem Vater gezeichnet zu werden.
    »Du bist Gloria«, sagte Wiremu. Offensichtlich hatte er ihr jetzt doch einen längeren Blick gegönnt. »Wir haben als Kinder

Weitere Kostenlose Bücher