Der Ruf der Kiwis
...«
Gwyn nickte. Ihre Schwiegertochter war äußerst scharfsinnig, aber sie sprach in Rätseln.
»Also gut, Maaka. Sprich mit Frank, er soll sich zurückhalten. Und beschäftige Gloria bei den Schafen und den Hunden, da kann nichts schiefgehen. Ach ja ... und stell die Reitponystute zum Hengst. Du weißt schon, Glorias Pony. Princess ...«
Gloria ließ Ceredwen galoppieren, bis Reiterin und Pferd außer Atem waren. Nimue rannte mit hängender Zunge hinterher. Gewöhnlich nahm Gloria Rücksicht auf die Hündin, doch an diesem Tag wollte sie nur weg, so schnell wie möglich. Sie wusste, dass sie überreagiert hatte; sie hätte nicht nach Frank Wilkenson schlagen dürfen. Aber als er Ceredwens Zügel gefasst und nach ihrem Steigbügel gegriffen hatte, war etwas in ihr explodiert. Sie hatte nur noch rot gesehen, sich nur noch befreien wollen. Es passierte nicht zum ersten Mal, aber bislang war ihr diese blitzschnelle, instinktive Reaktion immer nützlich gewesen. Wenn die Männer die rasende Wut in ihren Augen und das aufblitzende Messer in ihrer Hand sahen, ließen sie von ihr ab. Aber auf Kiward Station würde es sie in Schwierigkeiten bringen – womöglich redete Maaka bereits mit Grandma Gwyn.
Gloria hatte vage Schuldgefühle, aber dann brach ihr Zorn wieder durch. Grandma Gwyn konnte gar nichts machen. Noch mal ließ Gloria sich nicht wegschicken, man konnte sie schließlich nicht fesseln und knebeln. Außerdem schienen Kura und William auch kein großes Interesse mehr an ihr zu haben. Sie waren nach wie vor in Amerika, jetzt wieder in New York, und ihre Show lief am Broadway. Von Glorias Wiederauftauchen hatten sie kaum Notiz genommen, was Grandma Gwyn erkennbar aufatmen ließ.
Wie es aussah, machte Kura keine Anstalten, die Farm zu verkaufen. Die Martyns waren glücklich in der Neuen Welt und schwammen im Geld. Grandma Gwyn würde sicher keine schlafenden Hunde wecken, indem sie sich über ihre Urenkelin beschwerte. Gloria berauschte sich kurz an ihrer Macht: Sie war die Erbin. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte!
Eigentlich hatte sie ein paar Mutterschafe auf eine Winterweide treiben wollen, doch über der Auseinandersetzung mit Frank hatte sie die Tiere vergessen. Jetzt noch einmal umzukehren war sinnlos. Da kontrollierte sie lieber die Außenstellen – oder ritt zum Ring der Steinkrieger. Sie war seit ihrer Rückkehr erst einmal dort gewesen, um Grandpa James’ Grab zu besuchen. Aber dabei hatte Gwyneira sie begleitet, und Gloria hatte sich gehemmt und beobachtet gefühlt. Musste Gwyneira ihren Sitz auf dem Pferd und ihre Zügelführung pausenlos korrigieren? Schaute sie nicht zu forschend hin, missbilligte sie, dass Gloria am Grab ihres Mannes nicht weinte? Gloria kämpfte ständig mit ihrer Unsicherheit, wenn sie mit Gwyneira zusammen war, und es gab auch sonst niemanden auf Kiward Station, in dessen Anwesenheit sie sich sicher fühlte. Maaka wollte ihr erklären, wie sie die Rinder zu treiben hatte, Frank Wilkenson meinte zu wissen, welches Pferd sich am besten für sie eignete ... Alle hackten nur auf ihr herum ... es war wie in Oaks Garden ... nie konnte sie es jemandem recht machen ...
Gefangen zwischen Wut und Grübeleien erreichte Gloria die Steinformation in den Ausläufern des Hochlandes, die ein bisschen wie das unaufgeräumte Spielzimmer eines Riesenkindes wirkte. Gewaltige Felsblöcke bildeten einen Kreis, fast vergleichbar mit den Menhir-Formationen in Stonehenge. Aber hier hatte die Natur selbst gewirkt, nicht die Hand des Menschen. Die Maoris sahen im Ring der Steinkrieger eine Laune der Götter, das Land war ihnen heilig. Außerhalb bestimmter Tage oder Stunden pflegten sie Plätze zu meiden, die als
tapu
galten. Der Ring der Steinkrieger gehörte den Geistern meist allein – wenn nicht irgendwelche
pakeha
kamen und ihre Ruhe störten. Die Geister, so hatte Grandpa James mitunter gelästert, nähmen das allerdings weniger übel als Häuptling Tonga, der sich gern darüber aufregte, wenn sich gelegentlich ein paar Schafe in die Heiligtümer seines Volkes verirrten.
Umso überraschter war Gloria jetzt, als sie im Ring der Krieger Rauchschwaden aufsteigen sah. Als sie sich näherte, erkannte sie ein kleines Feuer, an dem sich ein junger Maori niedergelassen hatte.
»Was tust du hier?«, fuhr sie ihn an.
Der junge Mann schien aus einer tiefen Meditation zu erwachen. Er wandte ihr das Gesicht zu, und Gloria erschrak beim ersten Anblick. Das Antlitz des Mannes war
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