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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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erklärte Rongo. »Wie könnte Rangi auch weinen beim Anblick dieser Schönheit ...«
    Tatsächlich war der Lake Tekapo im letzten Tageslicht ein atemberaubender Anblick. Das Grasland der Plains grenzte ans Nordufer, auf der anderen Seeseite erhoben sich majestätisch die Südalpen. Das Wasser schimmerte in dunklem Türkis – bei Sonnenschein würde es leuchten. Die Frauen des Stammes begrüßten den See mit Gesang und Gelächter. Rongo schöpfte feierlich das erste Wasser, und diesmal gelang es auch, ein Feuer am Ufer zu entzünden. Die Männer schwärmten aus, um zu jagen, und auch wenn es mit der Jagdbeute noch dürftig aussah, gab es doch am Feuer gerösteten Fisch und Brotfladen aus den letzten Mehlvorräten. Marama und einige der anderen Frauen holten die Instrumente aus ihrer halbwegs regendichten Verpackung und feierten die Ankunft am See. Natürlich waren die Zelte und Schlafmatten noch klamm, als der Stamm sich schließlich zur Ruhe begab, aber das kleine Fest hatte den Menschen Auftrieb gegeben. Viele Männer und Frauen gaben sich der Liebe hin. Gloria verspürte Übelkeit. Sie musste hinaus.
    Eingehüllt in ihre Decke schlich Gloria sich aus dem Zelt. Der Himmel über dem See war tiefschwarz, aber auf den Gipfeln der Berge lag noch Schnee. Das Mädchen schaute hinauf und versuchte, mit allem eins zu werden, wie Rongo es ihr geraten hatte. Mit Himmel, See und Bergen war das nicht schwierig. Mit dem Stamm würde es ihr wohl nie gelingen ...
    Sie erschrak, als sie Schritte hinter sich hörte. Wiremu.
    »Du kannst nicht schlafen?«
    Gloria antwortete nicht.
    »Am Anfang fiel es mir auch schwer. Als ich zurück aus der Stadt kam. Aber als Kind habe ich es geliebt.« Sie hörte an seiner Stimme, dass er lächelte. »Wir sind von einer Frau zur anderen gerobbt, ein Arm war immer frei.«
    »Meine Mutter wollte mich nicht«, sagte Gloria.
    Wiremu nickte. »Ich habe davon gehört. Kura war anders, ich erinnere mich kaum an sie ...«
    »Sie ist schön«, sagte Gloria.
    »Du bist schön.« Wiremu trat näher an sie heran und hob die Hand. Er wollte ihr Gesicht berühren, aber sie schrak zurück.
    »
Ta p u ?
 «, fragte er sanft.
    Gloria konnte darüber nicht scherzen. Wachsam ging sie zurück in Richtung Zelt.
    »Du kannst dich ruhig umdrehen. Ich werde dich nicht von hinten anfallen. Was hast du bloß, Gloria?« Wiremu lief ihr nach und fasste nach ihrer Schulter, aber Glorias Reflexe konnten keine freundschaftliche von einer feindlichen Berührung unterscheiden. Nicht bei Nacht. Das Mädchen griff blitzschnell nach seinem Messer. Wiremu duckte sich, als er es aufblitzen sah, warf sich zu Boden und rollte sich ab.
    Gloria sah erschrocken, wie er geschmeidig wieder auf die Beine kam und entsetzt zu ihr hinüberblickte.
    »Glory ...«
    »Fass mich nicht an! Fass mich nie mehr an!«
    Wiremu hörte die Panik in ihrer Stimme.
    »Gloria, wir waren doch Freunde. Ich wollte dir nichts tun. He, sieh mich an! Ich bin Wiremu, weißt du nicht mehr? Der Möchtegern-Medizinmann.«
    Ganz langsam erlangte Gloria ihre Fassung zurück.
    »Tut mir leid«, sagte sie leise. »Aber ich ... ich mag’s nicht, wenn man mich anfasst.«
    »Das brauchtest du doch nur zu sagen. Gloria – ich akzeptiere 
tapu
, das weißt du.« Wiremu lächelte wieder und hob dabei die flachen Hände. Eine Friedensgeste.
    Sie nickte schüchtern. Nebeneinander, doch ohne sich zu berühren, gingen sie zurück zum Zelt.
    Tonga, der in einem Einzelzelt abseits des Stammes schlief, sah sie kommen. Zufrieden lehnte er sich zurück.
     
    Das Wetter am See war tatsächlich besser als unten in den Plains, aber es regnete dennoch viel. Die Ngai Tahu mussten nicht hungern; es gab Fisch und Fleisch im Überfluss, und die Menschen ließen es sich gut gehen. Gloria begleitete Rongo auf der Suche nach Heilpflanzen. Sie lernte, wie man Flachs verarbeitete, und hörte auf Maramas Geschichten von Harakeke, dem Flachsgott, einem Enkel von Papa und Rangi. Die Frauen erzählten auch von den Göttern des Sees und der Berge, schilderten die Reisen Kupes, des ersten Entdeckers Aotearoas, und seine Kämpfe mit Riesenfischen und Landungeheuern.
    Manchmal trafen sie mit anderen Stämmen zusammen, veranstalteten ein langwieriges 
pohiri
 – eine Begrüßungszeremonie, die in allen Einzelheiten festgelegt war – und feierten anschließend ein Fest. Dann tanzte Gloria mit den anderen und blies die 
koauau
 zu den Kriegs-
haka
 der Mädchen. Sie vergaß ihre ständige Furcht,

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