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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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gelernt und schmückte die Geschichte aus, wortreich und farbig, ganz auf Maori-Art. Er amüsierte sich köstlich. Gloria errötete und empfand Mitleid und Zorn für die entführte Prinzessin, die sicher andere Pläne mit ihrem Leben gehabt hatte, als dem Göttervater als Gespielin zu dienen.
    In den nächsten Tagen brachte Wiremu ihr oft interessante Exemplare von Pflanzen oder Insekten, und eines Nachts weckte er sie durch vorsichtiges Anrufen, um ihr einen Kiwi zu zeigen. Sie folgten den schrillen Pfiffen des nachtaktiven Laufvogels mit dem braunen Gefieder und dem langen, gebogenen Schnabel, und tatsächlich entdeckten sie das scheue Tier unter einem Strauch. Es gab viele Nachtvögel in Aotearoa, gerade im Alpenvorland, aber einen Kiwi zu sehen war etwas Besonderes. Gloria folgte ihrem Freund vertrauensvoll, um das Tier zu beobachten. Wiremu lud sie immer öfter zu diesen kleinen Nachtspaziergängen ein, aber er berührte sie nie.
    Allerdings blieb es natürlich nicht aus, dass die anderen Mädchen über ihre nächtlichen Ausflüge mit dem Häuptlingssohn redeten. Auch den erwachsenen Frauen blieb es nicht verborgen. Tonga wirkte überaus zufrieden.
    Nach einiger Zeit verließen die Ngai Tahu den See und wanderten weiter hinauf in die Berge. Der Aoraki, der höchste Berg der Insel, galt als heilig, und sie wollten ihm näher kommen.
    »Einige 
pakeha
 sind vor ein paar Jahren hinaufgestiegen«, berichtete Rongo. »Aber den Geistern hat das nicht gefallen.«
    »Warum haben sie es dann erlaubt?«, fragte Gloria. Sie kannte den Berg als »Mount Cook«, und sie hatte von der erfolgreichen Expedition gehört.
    Rongo gab ihre Standardantwort: »Frag nicht mich, frag den Berg.«
    Schließlich jagten sie in den McKenzie Highlands, und Gloria wagte es tatsächlich, abends am Lagerfeuer die Geschichte ihres Grandpa James zu erzählen und sie genauso farbig auszuschmücken, wie die Maoris das taten. In den langen, verschachtelten Sätzen ihrer Sprache berichtete sie von McKenzies Begegnung mit seiner Tochter Fleur und davon, wie John Sideblossom den Viehdieb schließlich zur Strecke brachte und seine Verbannung nach Australien bewirkte.
    »Aber mein Grandpa kehrte zurück aus dem großen Land jenseits der See, in dem die Erde rot ist wie das Blut und die Berge zu glühen scheinen. Und er lebte lange.«
    Glorias Zuhörer applaudierten begeistert, und Marama lächelte ihr zu.
    »Du wirst noch eine 
tohunga
, wenn du so weitermachst. Aber das ist kein Wunder. Auch dein Vater ist ein Meister der schönen Rede. Wenngleich er einen etwas seltsamen Gebrauch davon macht ...«
     
    Von Maramas Lob beflügelt übte Gloria sich in der Redekunst. Sie arbeitete intensiv an ihrer 
pepeha
, der persönlichen Vorstellungsansprache, die jeder Maori vortragen kann, wenn eine Zeremonie es erfordert. Man nannte dabei seine 
tupuna
 – seine Ahnen – und schilderte das Kanu und die Einzelheiten der Reise, die sie einst nach Aotearoa geführt hatten. Marama half Gloria, den Stamm zu benennen, den die Reisenden dann begründeten, und zeigte ihr die Orte, die sie bewohnt hatten. Besonders faszinierend war ein Tal, das wie eine natürliche Festung wirkte. Es war heute 
tapu
; irgendwann hatten sich wohl ein paar Leute darin bekriegt, oder es war sonst etwas Seltsames geschehen. Die Männer des Stammes fürchteten sich, den Ort zu betreten, aber Rongo und Marama führten Gloria dorthin und meditierten mit ihr am Feuer. Gloria nahm eine genaue Beschreibung der Felsenfestung in ihre 
pepeha
 auf.
    Den 
pakeha
-Familienzweig genau zu schildern war natürlich schwieriger, aber Gloria nannte den Namen des Schiffes, auf dem Gwyneira gereist war, gab Kiward Station als Bestimmungsort an und nannte die Wardens ihren 
iwi
 – ihren Stamm. Schließlich beschrieb sie farbig den Ort, an dem sie geboren war, und spürte dabei fast so etwas wie Heimweh. Die Ngai Tahu waren jetzt seit drei Monaten unterwegs. Und obwohl Gloria offensichtlich zum Stamm gehörte und sich zum ersten Mal seit Jahren wirklich akzeptiert fühlte, hatte sie doch oft das Gefühl, das Leben einer anderen zu führen. Sie spielte die Rolle eines Maori-Mädchens, und offensichtlich tat sie das gut. Aber war es wirklich das, was sie sein wollte? Was sie war? Bislang hatte Gloria nie gegen das protestiert, was von ihr erwartet wurde. Sie übte sich im Umgang mit Heilpflanzen. Sie lernte zu weben und die Bedeutung der Webmuster zu verstehen. Sie bereitete das Fleisch zu, das die

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