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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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Wanderung über die Berge der neuen Heimat, die Helen Davenport damals die »Berge der Hölle« genannt hatte, beflügelten die Fantasie ihrer Zuhörer. Glorias 
mana
 in der Gemeinschaft wuchs. Sie schritt aufrecht und stolz zwischen ihren Freundinnen, als der Stamm schließlich wieder das Land betrat, das die 
pakeha
 immer noch O’Keefe Station nannten. Wiremu, der mit den Männern unterwegs war, lächelte ihr mitunter zu, und sie scheute sich nicht, den Gruß zu erwidern. Gloria fühlte sich sicher.
     
    »Willst du denn nicht heute noch heimgehen?«, fragte Marama und blickte verdutzt auf Glorias Maori-Festkleidung. Die Ngai Tahu hatten ihr 
marae
 auf Helen O’Keefes ehemaliger Farm wieder in Besitz genommen, und Gloria reinigte gemeinsam mit den anderen Mädchen das 
wharenui
 für die anstehenden Feierlichkeiten. Pau schlug Schlafmatten aus, Gloria kehrte. Andere Mädchen wuschen den Staub von den mannsgroßen Götterstatuen. Alle trugen bereits ihre 
piupiu
 und schulterfreie, gewebte Oberteile in den Farben schwarz, rot und weiß. Das Wetter ließ diese leichte Kleidung ausnahmsweise einmal zu; es war sonnig und regnete nicht. Die Mädchen würden später einen Begrüßungs-
haka
vor dem Versammlungshaus tanzen. Marama hatte allerdings nicht angenommen, dass ihre Enkelin daran teilnehmen wollte.
    »Miss Gwyn wird hören, dass wir angekommen sind. Sie wird auf dich warten.« Gloria zuckte die Schultern. In Wahrheit war sie hin und her gerissen. Einerseits wollte sie mit dem Stamm die Heimkehr feiern, andererseits sehnte sie sich nach ihrem gemütlichen Bett, ihrem abgeschlossenen Zimmer – und sogar ein bisschen nach Grandma Gwyns Umarmung, ihrem Duft nach Rosen und Lavendel und dem von Moana und Kiri servierten Essen. Ein richtiger Tisch. Richtige Stühle.
    »Was redest du von Heimkehr, Moana?«, fragte Tonga. Er trat eben ein, gefolgt von seinen Söhnen. Wiremu ging als Letzter. Wie alle anderen trug er bereits traditionelle Kleidung für die Feier. Die Männer würden einen 
haka
 tanzen, um ihre Frauen wieder im 
wharenui
 zu begrüßen. »Gloria ist hier zu Hause. Willst du sie zurück zu den 
pakeha
schicken?«
    Der Häuptling leitete die Zeremonie der Heimkehr in das angestammte 
marae
 – obwohl er und seine Familie eigentlich im Dorf auf Kiward Station wohnten. Er würde allerdings erst am folgenden Tag dorthin zurückkehren. Für Gloria ein geeigneter Vorwand, ebenfalls noch einen Tag bei ihrer Maori-Familie zu bleiben. Zu Fuß war der Weg nach Kiward Station weit; es würde schöner sein, ihn in der Gruppe als allein zurückzulegen. Gloria lächelte, als sie an ihr Pferd dachte. Sie würde wieder reiten können. Nach der langen Wanderung wusste sie das zu schätzen.
    »Ich schicke niemanden irgendwohin, Tonga«, sagte Marama ruhig. »Gloria muss selbst wissen, was sie tut und wo und mit wem sie leben will. Aber es gehört sich, Miss Gwyn wenigstens zu besuchen und ihr zu zeigen, dass sie wohlauf ist.«
    »Ich ...« Gloria wollte etwas sagen, aber die Älteren geboten ihr Schweigen.
    »Ich denke, Gloria hat bereits gezeigt und bewiesen, wohin sie gehört«, meinte Tonga würdevoll. »Und ich denke, sie sollte diese Bindung an ihren Stamm heute Nacht vollenden. Seit Monaten beobachten wir, dass Gloria und Wiremu, mein jüngster Sohn, Zeit miteinander verbringen. Bei Tag und bei Nacht. Es wäre Zeit, nun auch im Beisein des Stammes, hier im Versammlungshaus, das Lager zu teilen.«
    Gloria fuhr auf. »Ich ...« Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte. All die Ausbildung des 
whaikorero
 hatte sie auf diese Situation nicht vorbereitet. »Wiremu ...«, flüsterte sie hilflos.
    Wiremu musste jetzt etwas sagen. So sehr es sie drängte, ihr Nein laut herauszuschreien, war sie doch beinahe froh um die Panik, die sie an dieser spontanen Reaktion gehindert hatte. Wiremu würde vor seinem Stamm das Gesicht verlieren, wenn sie ihn ablehnte. Das Nein musste von ihm kommen.
    Wiremu blickte unstet von einem zum anderen.
    »Das ... das kommt überraschend ...«, sagte er stockend. »Aber ich ... also, Gloria ...« Er schob sich näher zu ihr heran.
    Gloria sah ihn bittend an. Anscheinend fiel es ihm schwer, einzugestehen, dass niemals etwas zwischen ihnen gewesen war. Gloria verfluchte den männlichen Stolz. Und sie spürte Zorn in sich auflodern. Tonga hatte seinen Sohn in eine unmögliche Situation gebracht. Und sie selbst natürlich auch. Es mehrte nicht gerade das 
mana
, vom

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