Der Ruf der Kiwis
wehrte sie ab.
»Ich weiß nicht, was du hier Wichtiges zu tun hast«, fuhr sie ihren Sohn an. »Aber du wirst es jetzt bitte ein paar Stunden unterbrechen und nach O’Keefe Station reiten. Der Stamm ist zurück. Und ich möchte ... nein, ich bestehe darauf, dass Gloria sich heute noch hier sehen lässt. Das ist verdammt noch mal nicht zu viel verlangt. Sie hat den ganzen Sommer für sich gehabt. Aber jetzt will ich wissen, dass sie wohlauf ist, und ich möchte zumindest einen kleinen Bericht darüber hören, was sie in den letzten Monaten getan hat. Auch wenn er sich wieder auf Bemerkungen beschränkt wie ›Es war sehr schön, Grandma Gwyn‹.«
Jack stand langsam auf. »Ich weiß nicht ... sollten wir nicht warten, bis sie ...«
Er wusste nicht genau, was er fühlte. Einerseits brannte er darauf, Gloria zu sehen, seit Maaka am Morgen verkündet hatte, der Stamm kehre zurück. Andererseits hatte er Angst vor der Begegnung. Er fürchtete Glorias Reaktion auf seinen Anblick. Würde sie erschrecken wie die meisten? Würde sie Mitleid haben? Verachtung empfinden? Jack selbst verachtete sich jetzt manchmal für seine Schwäche, und er sah auch Missbilligung in den Augen anderer Männer. Dieser junge Viehhüter zum Beispiel, Frank Wilkenson. Der Mann glaubte noch an die Glorie von Gallipoli. Er hatte Jack als Helden begrüßen wollen – und sich fast dafür entschuldigt, dass er selbst darauf verzichtet hatte, am Mythos um diesen verdammten Strand teilzuhaben. Jack hatte ihn ziemlich rüde abblitzen lassen. Und nun, da der Junge sah, was der Krieg aus ihm gemacht hatte, hielt er McKenzie für eine würdelose Memme.
»O nein, Jack, ich warte nicht mehr!«, erklärte Gwyneira und wanderte im Zimmer herum. »Und falls da drüben eine Hochzeit stattfindet, wirst du die Braut gefälligst herausreißen und hierher befördern, bevor sie diesem Wiremu im Schlafhaus beiliegt!«
Jack musste beinahe lachen. Seine Mutter war sicher nicht prüde, aber so klare Worte hatte er noch nie von ihr gehört.
»Ich will es gern versuchen, Mutter, aber ich fürchte, dann spießt Tonga mich auf. Und ich glaube es ohnehin nicht. Er hätte dich eingeladen. Das ließe er sich garantiert nicht entgehen!«
Gwyneira schnaubte. »Er hätte mich morgen dazu gebeten!«, meinte sie melodramatisch. »Um das Blut auf dem Laken zu sehen!«
Jack verzichtete darauf, sie auf Maori-Bräuche hinzuweisen. Vielleicht hatte es einmal rituell verheiratete Häuptlingstöchter gegeben, die unberührt in die Ehe gingen, um irgendwelchen Göttern zu gefallen. Aber das normale Maori-Mädchen war längst keine Jungfrau mehr, wenn es einen Ehemann wählte. In der Regel probierten die Mädchen mehrere Männer aus, bevor sie sich für einen entschieden. Gwyneira wusste das natürlich. Wenn Gloria entschlossen war, Wiremu zu ehelichen, war er sicher nicht ihr erster Mann.
Jack empfand bei dem Gedanken Wut und einen Anflug von Traurigkeit. Eifersucht? Er schüttelte den Kopf. Das war Unsinn, Gloria war ein Kind. Und er gönnte ihr das Glück – wenn sie es denn wirklich in Wiremus Armen finden sollte.
Jacks Pferd Anwyl wartete in seinem Stall. Jack verspürte Schuldgefühle, wenn er an den Wallach dachte. Er kam viel zu selten heraus, ebenso wie Tuesday. Die kleine Hündin tanzte begeistert um ihn herum.
»Soll ich ihn für Sie satteln, Mr. Jack?«, fragte Frank Wilkenson mit kaum verhohlener Verachtung. Jack hatte das Angebot in den letzten Monaten manchmal angenommen. Jetzt schämte er sich dafür.
»Nein, lassen Sie, ich mache das selbst.« Er kämpfte die Schwäche nieder, die ihn beim Aufheben des schweren Sattels befiel.
Anwyl stand geduldig still, bis die Dunkelheit vor Jacks Augen sich wieder lichtete. Jack wusste, dass dies nichts mit seiner Verletzung zu tun hatte. Er bewegte sich einfach zu wenig. Er musste ...
Jack zog den Sattelgurt an und zäumte Anwyl auf. Dann führte er ihn nach draußen.
»Ich reite nach O’Keefe Station«, sagte er knapp. »In zwei Stunden sollte ich zurück sein.« Gleich darauf schalt er sich dafür, sich abzumelden wie ein Mädchen, das allein auf einen Ausritt ging. Früher hatte er das nie getan. Aber früher war er auch unverwundbar gewesen. Er hätte nie daran gedacht, dass ihm und seinem Pferd irgendetwas zustoßen könnte, das es notwendig machte, ihn zu suchen und rasch zu finden.
»Schon klar, Mr. Jack ... die verlorene Tochter einsammeln ...« Frank Wilkenson grinste anzüglich.
Jack dachte kurz daran,
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