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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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ihn zu feuern, brachte die Energie zu einer Rüge aber nicht auf.
     
    Es war ein schöner Tag, einer der wenigen warmen und sonnigen Tage dieses Sommers, der kein richtiger gewesen war. Nach den ersten Meilen begann Jack, den Ausritt zu genießen, und schließlich spornte er Anwyl sogar zu einem kleinen Galopp an. Dabei erinnerte er sich an die Rennen, die Gloria so gern geritten war. Und an das Pferd, das er ihr versprochen hatte. Er hatte Gwyneira nicht danach gefragt, was aus dem Fohlen geworden war. Aber die kleine Princess war wieder tragend. Ob Gwyneira die Stute Vicky verkauft hatte? Und nun wollte sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen?
    Jack überquerte den Bach, der die Grenze zwischen Kiward und O’Keefe Station bildete. Die Maoris hatten die alten Farmgebäude abgerissen und etwas weiter westlich ihr 
marae
 errichtet. Dort hatte auch vorher schon ein Dorf gestanden, aber jetzt, da dem Stamm das Land offiziell gehörte, hatten sie prachtvollere Schlaf- und Versammlungshäuser gebaut, als es sonst auf der Südinsel üblich war. Jack ritt über einen ausgetretenen Pfad zwischen eingezäunten Weiden. Der Maori-Stamm hielt hier ein paar Dutzend Schafe; zurzeit aber waren die Tiere mit den Herden von Kiward Station noch im Hochland.
    Er konnte die Häuser des Dorfes jetzt schon sehen. Vor dem 
wharenui
 waren festlich gekleidete Leute versammelt. Jack stieg ab, um den rituellen Gruß hinüberzurufen und um die Einladung zum Betreten des 
marae
 zu erbitten. Gewöhnlich hätten die Maoris ihn längst bemerkt, obwohl er sich dem Dorf von hinten genähert hatte. Selbst wenn Tonga gerade keine Wachen aufstellte – was er immer mal wieder versuchte, bis seine Leute sich langweilten und ihm den Gehorsam aufkündigten –, waren hier doch immer Kinder und Frauen unterwegs, um Wasser zu holen, die Tiere zu versorgen oder die Gärten zu bestellen.
    Aber heute konzentrierte sich die gesamte Aufmerksamkeit auf irgendein Geschehen im Versammlungshaus. Und dann löste sich ein Mädchen aus der Gruppe. Es trat ruhig und gelassen aus dem Haus. Jack vermutete zunächst eine Priesterin, die irgendeine Zeremonie vornahm. Das Mädchen trug traditionelle Maori-Kleidung, den Hanfrock und das gewebte Oberteil in den Farben des Stammes. Dann, als es um die Ecke gebogen war und vom 
wharenui
 aus nicht mehr gesehen werden konnte, begann es zu laufen. Das Mädchen rannte auf das Wäldchen zu, durch das Jack eben gekommen war, offensichtlich auf dem Weg zum Bach in Richtung Kiward Station – und beinahe in Jack und Anwyl hinein.
    Als die junge Frau den Mann und das Pferd sah, erschrak sie und blieb stehen. Ihre Augen funkelten, als sie zu ihm aufsah.
    Jack blickte in ein großflächiges Gesicht, das dennoch schmaler war als das der meisten Maori-Frauen. Als Erstes fielen ihm die kunstvoll aufgemalten 
moko
 auf. Sie ließen die Augen des Mädchens größer wirken. Blaue Augen ... Jack starrte die Frau an. Sie war jung, aber kein Kind mehr; sie musste um die zwanzig sein. Und ihr Haar ... dicke, unbezähmbare hellbraune Locken, die, passend zur traditionellen Kleidung, von einem breiten Stirnband zurückgehalten wurden.
    »Lassen Sie mich vorbei!« Im Gesicht des Mädchens stand keine Furcht und erst recht kein Erkennen, nur nackte Wut. Irgendetwas hatte sie bis aufs Blut gereizt.
    Erschrocken sah Jack ein Messer in ihrer Hand aufblitzen.
    Er hob abwehrend die flachen Hände, wollte ihr versichern, dass er ihr nichts täte. Aber dann kam ihm doch nur ein Wort über die Lippen.
    »Gloria?«
    Gloria zitterte. Sie schien sich jetzt ein wenig zu beruhigen, nahm sich Zeit, ihr Gegenüber näher zu betrachten.
    Jack wartete auf das Erkennen in ihren Augen. Auf Mitleid, auf Erschrecken, auf Ablehnung. Doch Glorias Gesicht zeigte nur Erschöpfung und Müdigkeit.
    »Jack«, sagte sie dann.
    Jack musterte sie genauer. Sie war erwachsen – und er hatte das natürlich gewusst. Es waren zehn Jahre vergangen, seit das kleine Mädchen ihm tränenüberströmt ein unmögliches Versprechen abgenommen hatte: »Wenn es ganz schlimm wird ... kommst du mich holen?«
    »Ich soll dich nach Hause holen«, sagte er leise.
    »Du kommst spät.« Sie erinnerte sich.
    »Du hast es ohne mich geschafft. Und du ... du bist ...«
    Sie stand vor ihm und sah ihn immer noch an.
    Er wusste nicht, wie er seinen Eindruck von ihr in Worte fassen sollte. Gloria hatte nach wie vor nichts Ätherisches, aber ihr Gesicht hatte Kontur gewonnen. Man sah die hohen

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