Der Ruf der Kiwis
sattsehen, wusste aber auch, dass noch ein langer Abstieg vor ihnen lag – mit möglichst vielen Umwegen, um weitere vierbeinige Ausreißer zu finden.
Rihari schüttelte den Kopf. »Ich bin nur hinaufgeritten, weil ich das Wetter sehen wollte«, erklärte er, und seine Stimme klang seltsam hohl. »Weil ich ... das da sehen wollte.« Gloria hatte nach Süden zum Mount Cook hinübergesehen, aber Rihari zeigte nach Westen.
Auch die Wolkenformation, die sich dort zusammenballte, war ein Naturschauspiel. Aber statt sich in ihrer Schönheit zu verlieren, ließ der Anblick jeden halbwegs kundigen Betrachter erzittern.
»Oh, verdammt, Rihari! Was ist das? Das nächste Unwetter? Oder geht da gleich die Welt unter?« Gloria blickte entsetzt auf die schwarzen und grauen Wolkengebirge, in denen mitunter Blitze gespenstisch aufleuchteten. »Zieht es hier herüber?«
Rihari nickte. »Siehst du das nicht?«
Tatsächlich schob die tiefschwarze Front sich schon näher heran, während sie sprachen.
Gloria nahm die Zügel auf und straffte sich. »Wir müssen runter ins Lager, so schnell es eben geht, und die anderen warnen. Verdammt, Rihari, wenn das so schlimm ist, wie es aussieht, reißt es uns auch die Zelte weg ...«
Gloria wendete Ceredwen und pfiff nach den Hunden. Rihari folgte ihr. Die Pferde hatten es ihrerseits eilig, zurück ins Lager zu kommen, und boten ein hohes Tempo an. Gloria musste ihre Cobstute oft bremsen. Die Gefahr, auszugleiten und in einen Abgrund zu stürzen, war zu groß. Rihari versuchte, die Schafe zu kontrollieren, musste das aber den Hunden allein überlassen. Die Gewitterfront kam näher, und die Tiere gerieten allmählich in Panik. Dafür tauchten die Reiter aber nicht erneut in Nebel. Der aufkommende Wind trieb den Dunst vor sich her. Ein schlechtes Zeichen. Sehr bald begann es auch zu regnen.
»Gloria, wir können nicht hier auf dem Pass bleiben.« Rihari kämpfte sich durch den peitschenden Regen neben das Mädchen. »Wenn es einen Schneesturm gibt wie gestern, weht es die Pferde glatt herunter. Mal abgesehen davon, dass wir nicht die Hand vor Augen sehen würden.«
»Und wo sollen wir stattdessen hin?« Der Wind riss Gloria die Worte aus dem Mund.
»Es gibt Höhlen in einem Tal hier ganz in der Nähe ...«
»Und?«, fragte Gloria ärgerlich. »Warum sind wir noch nicht da? Wir hätten sie als Lager nutzen können.«
»Sie sind
tapu
«, rief Rihari. »Die Geister ... Aber du kennst doch Pourewa. Warst du nicht mit Rongo einmal da?«
Gloria überlegte kurz. Rongo hatte sie in so viele Täler, auf so viele Berge geführt und ihr Höhlen und Felsformationen gezeigt, weil irgendwelche Ahnen dort zu Urzeiten gelebt hatten. Nun versuchte Gloria, sich an die Bedeutung des Wortes zu erinnern. Und plötzlich stand ihr eine Felsenfestung vor Augen. Ein Tal, umgeben von Bergen. Ein Vulkankrater oder ein Gletscher, der dort vor Jahrtausenden eine Art Fort hatte entstehen lassen.
»Die Geister werden sich auf Besuch einstellen müssen«, erklärte Gloria. »Rihari, wo ist diese Festung? Es war in dieser Gegend, aber ziemlich weit vom Hauptlager. Rongo und ich sind stundenlang aufgestiegen.«
»Rongo ist eine alte Frau ...« Rihari sprach zögernd. Er kannte das Heiligtum, und offensichtlich war es auch in erreichbarer Nähe. Aber er schien es nicht entweihen zu wollen. Andererseits kam das Unwetter immer näher ...
Gloria ignorierte Riharis Unschlüssigkeit. »Du führst uns jetzt hin, dann feuern wir die Gewehre ab«, bestimmte sie. »Vielleicht kommen die anderen auf die Idee, uns dort zu suchen. Haben wir Leuchtmunition?«
Rihari zuckte die Schultern. Gloria war sich allerdings fast sicher. Grandma Gwyn hatte sie noch bei der Inspektion der Satteltaschen darauf hingewiesen.
Die beiden Reiter folgten inzwischen noch engeren Pfaden durch den Regen, den der Sturm kaskadenartig vor sich hertrieb. Rihari führte Gloria teilweise abwärts, dann wieder bergauf. Wahrscheinlich war hier nie zuvor ein Pferd entlanggeschritten – und zumindest in den letzten Jahrhunderten nur wenige Menschen.
Gloria meinte die Gegend dann auch wiederzuerkennen. Entschlossen setzte sie Ceredwen vor das Pferd des offensichtlich zögernden Rihari und trieb sie energisch an. Der Regen wich derweil leichtem Schneefall, und Gloria zog ihren Schal vors Gesicht, um sich zu schützen. Dabei wäre sie fast am Eingang zum Krater vorbeigeritten. Aber Rihari kannte sich aus.
»Warte ...«, schrie er, um den Wind zu übertönen.
Weitere Kostenlose Bücher