Der Ruf der Kiwis
verpfiffen hat, nicht?«, erkundigte sie sich. »Aber klar lasse ich mir da etwas einfallen!«
In der nächsten Geigenstunde musste Gabrielle dann feststellen, dass ihr Instrument völlig verstimmt war. Kein Problem für wirklich musikalische Schülerinnen, aber Gabrielles Gehör war nicht besser als Glorias, und sie pflegte eine hochbegabte kleine Geigerin aus Lilians Klasse mit Süßigkeiten zu bestechen, damit sie ihr die Violine vor dem Unterricht stimmte. Nun musste sie das allerdings allein erledigen, vor den Augen und Ohren Miss Tayler-Benningtons. Die Blamage war vollkommen, und Lilian kicherte.
Gloria erfüllte der gelungene Streich mit einer Art Triumph, aber keiner echten Freude. Es bereitete ihr keine Befriedigung, andere leiden zu sehen, und sie stritt sich nicht gern. Gwyneira hätte ihr Harmoniebedürfnis auf ihr Maori-Erbe zurückgeführt; ihre Großmutter Marama war ähnlich geartet. In Oaks Garden interpretierte man Glorias friedfertige Art jedoch als Schwäche. Die Lehrerinnen nannten sie »antriebslos«, die Schülerinnen quälten sie auch weiterhin, wo sie nur konnten.
Lediglich an den Nachmittagen mit Miss Bleachum erwachte die alte, vergnügte und an allem in der Welt interessierte Gloria. Um weder von Christopher noch von Mrs. Buster belauscht zu werden, unternahmen die beiden nach der Französischstunde lange Spaziergänge. Begeistert angelte Gloria Froschlaich aus einem Tümpel, und Sarah fand eine versteckte Stelle in Mrs. Busters Garten, um ihn in einem Glas reifen zu lassen. Gloria beobachtete fasziniert die Entwicklung der Kaulquappen, und Mrs. Buster erschrak fast zu Tode, als schließlich zwanzig muntere Fröschlein durch ihre Blumenbeete hüpften. Sarah brauchte Stunden, um sie einzusammeln und zu ihrem Tümpel zurückzubringen, und handelte sich damit wieder mal einen milden Tadel des Reverends ein.
»Das war nicht sehr damenhaft, meine Liebe! Du solltest mehr daran denken, den Gemeindefrauen ein Vorbild zu sein.«
»Werden Sie den Reverend denn jetzt bald heiraten?«, fragte Gloria eines Tages im Sommer. In der Schule waren Ferien, aber natürlich hatte sie nicht nach Neuseeland zurückreisen können, und auch ihre Eltern waren wieder einmal in Gegenden der Welt unterwegs, in denen sie ihre Tochter nicht brauchen konnten. Diesmal bereisten sie Norwegen, Schweden und Finnland. Die in der Schule verbleibenden Mädchen wurden nicht allzu streng beaufsichtigt, und so stahl Gloria sich fast jeden Tag ins Dorf, um Miss Bleachum zu besuchen. Sie half bei den Vorbereitungen zum Gemeindebasar und zum Sommerfest und versüßte Sarah damit einige ungeliebte Pflichten.
Zu Sarahs Verwunderung kam Gloria mit den Frauen der Gemeinde gut zurecht. Die Dorfbewohner waren ja einfache Menschen, durchaus vergleichbar mit den Leuten in Haldon oder den Familien der Viehhüter, mit denen das Mädchen früher verkehrt hatte. Von Kura-maro-tini Martyn und ihrer sensationellen Stimme hatte hier nie jemand etwas gehört. Gloria war nur eine Internatsschülerin wie alle anderen. Als die Leute erst einmal heraushatten, dass sie nicht dünkelhaft und hochnäsig war wie viele andere Mädchen aus Oaks Garden, behandelten sie Gloria wie die Kinder aus dem Dorf. Hinzu kam, dass Girlanden flechten, Lampions aufhängen und Tisch decken ihr weitaus mehr lagen als Klavierspielen und Gedichte rezitieren. Sie machte sich nützlich, wurde gelobt und fühlte sich endlich wieder ein bisschen wohler in ihrer Haut. Im Grunde ging es ihr in der Gemeinde besser als Sarah, die sich unter den Dorfbewohnern immer noch unwohl fühlte. Insofern fand sie auch keine schnelle Antwort auf Glorias Frage.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie schließlich. »Alle gehen davon aus, aber ...«
»Lieben Sie ihn denn, Miss Bleachum?« Diese vorwitzige Frage kam, wie könnte es anders sein, von Lilian. Auch sie verbrachte einen Teil der Ferien im Internat und langweilte sich zu Tode. In der nächsten Woche würde sie allerdings nach Somerset reisen. Eine Freundin hatte sie auf das Gut ihrer Eltern eingeladen, und Lilian freute sich auf Ponys und Gartenfeste.
Sarah wurde wieder einmal rot, allerdings längst nicht mehr in der gleichen Intensität wie einige Monate zuvor. Inzwischen war sie es schließlich gewöhnt, ständig auf ihre bevorstehende Heirat angesprochen zu werden.
»Ich glaube, ja ...«, flüsterte sie – und war sich wieder nicht sicher. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass Sarah es nicht wusste, schon deshalb, weil
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