Der Ruf der Kiwis
sie den Begriff »Liebe« immer noch nicht richtig definieren konnte. Früher hatte sie geglaubt, eine Seelenverwandtschaft mit Christopher zu verspüren, aber seit sie in England war, zog sie das zusehends in Zweifel. Im Grunde, das erkannte die junge Lehrerin mit immer größerer Klarheit, hatten sie und der Reverend wenig gemeinsam. Sarah strebte nach Wahrheit und sicheren Erkenntnissen. Wenn sie unterrichtete, wollte sie ihren Schülern die Welt erklären. Im religiösen Bereich hätte das dem Missionseifer entsprochen, aber davon verspürte die Lehrerin wenig. Zu ihrer Schande wurde ihr langsam klar, dass es ihr eigentlich egal war, was die Menschen glaubten. Wahrscheinlich hatte sie deshalb auch nie Probleme mit ihren Maori-Schülern gehabt. Gut, sie hatte die Bibel mit ihnen gelesen, aber es hatte sie nicht mit heiligem Zorn erfüllt, wenn die Kinder mit Maori-Sagen dagegenhielten. Sie hatte dabei lediglich ihr Englisch korrigiert, wenn ihnen Grammatikfehler unterliefen.
Zornig machte Sarah viel eher Ignoranz – und auf die traf sie in Sawston leider nur zu häufig. Auch Christopher erschien ihr hier zunächst anfällig, aber dann stellte sie fest, dass ihr Cousin die Meinungen, die er lauthals vertrat, durchaus nicht immer teilte. Der Reverend war intelligent und gebildet, aber die Wahrheit war ihm nicht so wichtig wie sein Ruf in der Gemeinde. Er wollte geliebt, bewundert und geachtet werden – und hängte sein Mäntelchen dafür bereitwillig nach dem Wind. Christophers Bibelauslegungen waren einfach und ließen keinen Raum für Zweifel. Er schmeichelte seinen weiblichen Gemeindemitgliedern und hielt sich mit Kritik an den Sünden der männlichen zurück. Sarah erfüllte das manchmal mit Zorn. Sie hätte sich oft klarere Worte gewünscht, wenn ihm wieder einmal eine Frau ihr Leid klagte, weil ihr Gatte das Geld im Pub durchbrachte und sie schlug, wenn sie dagegen protestierte. Aber Christopher pflegte hier nur zu beschwichtigen. Sarah glaubte nicht, dass sie besser damit zurechtkäme, wenn sie erst als Pfarrersfrau neben Christopher wirkte. Im Gegenteil, dann würden die Frauen zu ihr kommen, und an die sich daraus ergebenden Auseinandersetzungen mochte sie gar nicht denken.
Dennoch – mehr als zuvor zog Christopher Bleachum die junge Frau an. Nachdem sie sich praktisch darein ergeben hatte, offiziell mit ihm verlobt zu sein, erlaubte sie ihm, sie zu Picknicks und Ausfahrten abzuholen. Schon deshalb, um der bohrenden Langeweile im Dorf zu entgehen. Und kaum, dass sie mit ihm allein war, verspürte sie den Charme, mit dem er wohl auch die Gemeindefrauen an sich fesselte. Christopher gab ihr das Gefühl, nur für sie allein da zu sein und sich für nichts auf der Welt mehr zu interessieren als für Sarah Bleachum. Er sah ihr in die Augen, nickte ernsthaft zu ihren Gesprächsbeiträgen, und manchmal ... manchmal berührte er sie. Das begann mit einem zarten, fast zufälligen Streifen ihrer Hand, wenn beide gleichzeitig nach einem Hühnerschenkel auf der Picknickdecke griffen. Es wurde dann zu einer bewussteren Berührung ihres Handrückens mit seinen Fingern, wie um eine Bemerkung zu unterstreichen, die er gerade machte.
Sarah erschauerte unter diesen Annäherungen, Hitze stieg in ihr auf, wenn sie die Wärme seiner Finger spürte. Und dann griff er irgendwann nach ihrer Hand, um ihr beim Spaziergang über eine sumpfige Stelle hinwegzuhelfen, und sie fühlte seine Sicherheit und Kraft. Am Anfang machte sie das nervös, aber er ließ immer sofort los, wenn die schwierige Wegstrecke überwunden war, und schließlich ergab Sarah sich in das Gefühl, die Berührung zu genießen. Christopher schien das instinktiv zu spüren. Als Sarah sich endlich entspannte, ließ er ihre Hand in seiner, spielte irgendwann zärtlich mit ihren Fingern und sagte ihr dabei, wie schön sie war. Sarah verunsicherte das, aber sie wollte es zu gern glauben, und wie konnte jemand lügen, der einem so die Hand hielt? Sie zitterte innerlich, aber dann begann sie, sich auf seine Annäherungen zu freuen. Sie erbebte nicht mehr vor nervöser Erregung, sondern in Vorfreude darauf, dass Christopher den Arm um sie legte und zärtliche Worte sprach.
Irgendwann küsste er sie, im Schilf an dem Weiher, in dem sie mit Gloria Froschlaich gesammelt hatte. Und das Gefühl, seine Lippen auf den ihren zu spüren, raubte ihr erst den Atem und dann den Verstand. Sie konnte nicht mehr denken, wenn Christopher sie hielt; sie war nur noch Gefühl und
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