Der Ruf der Kiwis
geworden, und das Schultor war sicher verschlossen. Gloria hätte klingeln müssen und bestimmt einen Rüffel bekommen, aber Lilian hatte behauptet, mindestens zwei Möglichkeiten zu kennen, den Zaun heimlich zu überwinden.
»Wieso das denn?«, erkundigte sich Gloria. »Bestimmt liebt er sie!« Gloria konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt Sarah Bleachum nicht liebte.
»Er guckt sie nicht so an«, erklärte Lilian. »Nicht so ... na ja, nicht so ... weiß ich auch nicht. Aber er guckt Mrs. Walker so an. Und Brigit Pierce-Barrister.«
»Brigit?«, fragte Gloria. »Du bist verrückt!«
Brigit Pierce-Barrister war eine Schülerin von Oaks Garden. Sie ging in die Abschlussklasse und war älter als die meisten anderen – wie Gloria hatte man sie erst spät ins Internat geschickt, sie war lange zu Hause unterrichtet worden. Jetzt war sie bereits siebzehn und voll entwickelt. Die Mädchen kicherten mitunter über Brigits »schwellende Brüste« unter der zwangsläufig knapp sitzenden Schuluniform.
»Der Reverend kann doch nicht in Brigit verliebt sein!«
Lilian kicherte. »Warum denn nicht? Brigit ist jedenfalls in ihn verliebt. Und Mary Stellington auch, ich hab sie belauscht. Sie schwärmen beide für ihn, Mary hat ihm ein Lesezeichen aus gepressten Blumen gemacht und zu Mittsommer geschenkt. Jetzt stiert sie dauernd auf seine Bibel und hofft, dass er es benutzt und dabei an sie denkt. Und Brigit sagt, sie darf nächste Woche im Gottesdienst singen. Und sie hat Angst, dass sie keinen Ton rauskriegt, wenn er dabei ist ...«
Letzteres konnte Gloria gut nachvollziehen.
»Sogar die Mädchen aus meiner Klasse schwärmen für ihn. Und Gabrielle. Mensch, das musst du doch gemerkt haben!«
Gloria seufzte. Sie hörte schon längst nicht mehr auf das Getuschel zwischen Gabrielle und ihren Freundinnen. Und wie jemand für Reverend Bleachum schwärmen konnte, entzog sich ihrem Verständnis. Erst mal war er natürlich viel zu alt für all diese Mädchen. Und dann ... Gloria konnte sich nicht helfen, sie mochte den Reverend nicht. Irgendetwas an ihm schien unehrlich zu sein. Er schmeichelte ihr, wann immer sie sich trafen, sah ihr aber nie in die Augen. Außerdem mochte sie es nicht, von ihm berührt zu werden. Reverend Bleachum hatte die Angewohnheit, seinem Gegenüber zu nahe zu kommen, seine Hand tröstend oder beschwichtigend auf dessen Finger oder Schulter zu legen. Gloria hasste das.
»Ich persönlich würde ihn ja nicht heiraten«, plauderte Lilian weiter. »Allein, wie er alle angrapscht. Wenn ich mal heirate, soll mein Mann nur mich anfassen und nur mir allein schöne Dinge sagen und nicht allen Frauen, die er trifft. Und er dürfte auch nur mit mir tanzen. Wetten, dass Reverend Bleachum auf dem Sommerfest mit Brigit tanzt? Guck mal, da ist der Baum. Schaffst du es, zum untersten Ast hochzuspringen? Wenn man den hat, kann man ganz einfach raufklettern und über den Zaun kommen.«
Gloria blickte sie beleidigt an. »Natürlich kann ich da hochspringen. Aber ist auf der anderen Seite auch ein Ast?«
Lilian nickte. »Klar, es ist ganz leicht. Klettere mir einfach hinterher!«
Ein paar Minuten später landeten die Mädchen sicher im Garten der Schule. Tatsächlich ein unproblematischer Weg, auf den Gloria auch selbst hätte kommen können. Wie so oft schalt sie sich für ihr Ungeschick. Wann würde sie endlich lernen, anders als völlig gradlinig zu denken? Und nun hatte Lilian ihr obendrein Angst gemacht. Wenn der Reverend Miss Bleachum nicht liebte, würde er sie womöglich nicht heiraten. Sie würde zurück nach Neuseeland gehen und sich eine neue Stelle suchen. Und was um Himmels willen wurde dann aus Gloria?
Sarah Bleachum war weit davon entfernt, das Sommerfest der Gemeinde zu genießen. Sie saß nicht bei den jungen Mädchen, sondern war von Mrs. Buster an den Tisch der Matronen des Ortes gelotst worden. Hier machte sie nun gelangweilt Konversation, nachdem sie vorher den Basar für die Armen und den Kuchenverkauf überwacht hatte. Natürlich hatte sie auch selbst etwas kaufen müssen. Lustlos erstand sie einen von Mrs. Buster gestrickten Eierwärmern und einen gehäkelten Überzug für eine Teekanne.
»Man braucht so vieles für einen jungen Haushalt!«, erklärte Mrs. Buster. Für sie war selbstverständlich, dass ihre von Sarah gekauften Handarbeiten bald die Tafel des Reverends zieren würden, und es schien sie glücklich zu machen. Sarah nickte vage. Sie fand im Grunde alles
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