Der Ruf der Kiwis
respektlos.
Der Reverend hatte die Kapelle eben um Ruhe gebeten und vom Podium aus der gesamten Gemeinde verkündet, dass er sich soeben offiziell mit Miss Sarah Bleachum verlobt habe. Sarah schien dabei im Boden versinken zu wollen; ihre Haut war blass, doch auf den Wangen zeichneten sich rote Flecken ab.
Gloria fühlte mit ihr. Es musste schrecklich sein, da oben zu stehen und von allen angestarrt zu werden. Zumal Brigit und Mrs. Emily Winter nicht sehr freundlich guckten. Miss Wedgewood hatte sie ebenfalls schon glücklicher gesehen. Die hatte sich sicher Hoffnungen auf die Hand des Reverends gemacht. Eigentlich hätten die beiden auch ganz gut zusammengepasst. Miss Wedgewood spielte die Orgel viel besser als Miss Bleachum. Aber Gloria war natürlich froh, dass er sich für ihre frühere Hauslehrerin entschieden hatte. So würde Miss Bleachum auf jeden Fall bleiben – und sie trösten und ihr die Briefe diktieren, die sie nach Hause schickte, damit ja niemand merkte, wie unglücklich sie war.
»Ich finde jedenfalls nicht, dass sie glücklich aussieht«, beharrte Lilian.
Gloria beschloss, nicht auf ihre Cousine zu achten
8
Charlotte fand, dass Jack es mit seiner Sorge um Gloria übertrieb.
»Gott ja, natürlich schreibt sie ein bisschen hölzern«, erklärte sie. »Gerade im Unterschied zu Lilian – die scheint ja ein Wirbelwind zu sein. Aber Gloria ist dreizehn, die hat anderes im Kopf, als tiefschürfende Gedanken zu Papier zu bringen. Wahrscheinlich will sie schnell fertig werden und denkt gar nicht über die Inhalte nach.«
Jack runzelte die Stirn. Die beiden saßen im Zug von Greymouth nach Christchurch und hatten sich eben noch einmal die Höhepunkte ihrer Hochzeitsreise vor Augen geführt. Es war wunderschön gewesen. Caleb Biller hatte sich als äußerst anregender Gesprächspartner für Charlotte entpuppt und ihnen obendrein verschiedene Tipps für Ausflüge und andere Unternehmungen gegeben. Elaine und Timothy gingen selten aus – auch wenn Tim es nicht zugab, brachte ihn selbst der Alltag oft bis an die Grenzen der Erschöpfung. Seine Hüfte war nach dem Unfall nicht perfekt zusammengewachsen und schmerzte höllisch, wenn er mehr als ein paar Schritte ging oder zu lange auf harten Stühlen saß. Er war froh, wenn er an Wochenenden und Feiertagen in seinem Sessel sitzen und sich der Familie widmen konnte. Wanderungen zu Naturwundern wie den Pancake Rocks kamen nicht in Frage.
Elaine, eigentlich ein Naturkind, unternahm regelmäßige Ausritte, die sie aber nur in die nähere Umgebung des Ortes führten. Allerdings lieh sie Jack und Charlotte bereitwillig ein Gig und eins ihrer Pferde, womit die beiden begierig die Westküste erforschten. Caleb Biller war dabei ein ausgezeichneter Ratgeber. Ein- oder zweimal begleitete er das junge Paar sogar zu ihm bekannten Maori-Stämmen, von denen sie gastlich aufgenommen wurden. Charlotte freute sich an einem Hochzeits-
haka
, den man extra für sie intonierte, und glänzte mit ihren frisch erworbenen Sprachkenntnissen.
»Sie werden es als Forscherin weit bringen«, meinte Caleb schließlich. »Um die Sagen und Mythen hat sich bislang kaum jemand gekümmert. Kura und ich waren mehr an der Musik interessiert, und mich begeistert auch die Schnitzkunst. Aber Sie machen sich um die Sache verdient, wenn Sie die alten Geschichten bewahren, bevor sie mit neueren Geschehnissen verwoben werden. Ich sage bewusst nicht ›verwässert‹ – es gehört zum Wesen mündlich überlieferter Kultur, dass sie sich dem Zeitenwandel anpasst. Und gerade die Maoris sind wahre Meister der Anpassung. Es tut mir fast schon leid, wie schnell sie ihre eigenen Lebensformen aufgeben, wenn ihnen die der
pakeha
komfortabler erscheinen. Sie werden es irgendwann einmal bedauern, und dann ist es gut, wenn die alten Überlieferungen bewahrt bleiben.«
Charlotte war stolz auf das Lob und widmete sich mit noch mehr Eifer ihren Studien. Jack ließ ihr gutmütig Zeit dafür und frischte seine alte Freundschaft mit Elaine wieder auf, indem er mit ihr ritt und ihr half, die Hunde zu trainieren. Dabei kam die Rede zwangsläufig immer wieder auf die beiden Mädchen im englischen Internat – und Jacks Sorge um Gloria wuchs, je mehr Elaine von Lilian und ihren fröhlichen Briefen erzählte.
»Gloria ist eigentlich nicht oberflächlich«, sagte er nun zu seiner Frau. »Im Gegenteil, sie denkt eher zu viel nach, wenn eine Sache sie beschäftigt. Und sie war immer ganz erfüllt vom Leben auf
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