Der Ruf der Kiwis
»oder«. Sie hatte die Hoffnung, um ihrer selbst willen geliebt zu werden, längst aufgegeben. Natürlich las sie die Briefe, die Grandma Gwyn ihr schrieb, und sie glaubte den McKenzies auch, dass sie ihre Urenkelin vermissten. Aber liebten sie wirklich Gloria? Oder ging es hier um das Erbe von Kiward Station?
Gloria verbrachte ganze Nächte mit Grübeleien darüber, warum Grandma Gwyn sich dem Willen ihrer Eltern so selbstverständlich gebeugt hatte. Sie meinte, sich zu erinnern, dass Jack dagegen gewesen war. Aber Jack hatte auf ihren Brief nicht geantwortet. Er würde nicht kommen, um sie zu holen. Wahrscheinlich hatte auch er sie vergessen.
»Der Reverend liebt mich mit und ohne Brille, Glory, genau wie ich dich liebe, egal ob dir diese hässlichen Blümchenkleider stehen oder nicht. Und deine Grandma liebt dich auch, und deine Eltern ...« Miss Bleachum gab sich Mühe, aber Gloria wusste, dass sie log.
Lilian dagegen war begeistert von ihren Aufgaben bei der Hochzeit und sprach von nichts anderem mehr. Am liebsten hätte sie gleich noch die Orgel gespielt, aber das übernahm Miss Wedgewood, auch wenn sie bei den Proben stets ein wenig verschnupft aussah.
Christopher Bleachum war zufrieden mit der Entwicklung, obwohl ihm immer wehmütig zumute war, wenn er Brigit Pierce-Barrister beim Gottesdienst sah. Er hatte die zarten, eben geknüpften Bande zu dem Mädchen nicht wieder aufleben lassen. Jetzt, da er offiziell verlobt war, wollte er treu sein. So schwer es werden würde, aber er war fest entschlossen, Sarah ein guter, treu sorgender Mann zu werden – auch wenn er meinte, dass Mrs. Winter ihn neuerdings wieder mit Interesse und beinahe etwas Mitleid ansah. Sie musste wissen, dass Sarah nicht die Frau war, von der er zeitlebens geträumt hatte; andererseits wären weder Emily Winter noch Brigit Pierce-Barrister nur im Entferntesten für die Aufgaben einer Pfarrersgattin prädestiniert. Christopher empfand es als sehr christlich und äußerst heroisch, dass er beide Frauen nicht mehr ansah, sondern vermehrt um Sarah warb. Sie war längst Wachs in seinen Händen; es ging viel zu leicht, um ihn auch nur im Entferntesten zu reizen.
Schließlich rückte der große Tag näher, und die Gemeinde schien vor Aufregung zu brodeln. Sarah probierte ihr Kleid an und vergoss Tränen, als es so gar nicht sitzen wollte. Außerdem ließen die viel zu aufwändig verteilten Rüschen sie kindlich wirken. Ihre wenigen vorhandenen Formen verloren sich unter dem Meer von Satin und Tüll, das sich an den falschen Stellen bauschte und spannte.
»Ich bin ja nicht eitel, aber so kann ich doch nicht vor den Bischof treten!«, klagte sie Christopher ihr Leid. »Bei aller Rücksicht auf den guten Willen von Mrs. Buster und Mrs. Holleer – aber sie können nicht wirklich nähen. Jetzt wollen sie nachbessern, aber es ist kaum zu schaffen ...«
Christopher hatte sich um solche Fragen bislang nicht gekümmert, aber er sah die Notwendigkeit ein, dass Sarah angemessen gekleidet vor den Altar trat. Natürlich schmeichelte es den Matronen der Gemeinde, die junge Braut eingekleidet zu haben, und bislang hatte Christopher die nervöse Sarah immer beruhigt. Aber wenn das Kleid nun so gar nicht passte ...
»Mrs. Winter ist eine geschickte Näherin«, bemerkte er. »Sie sollte das in Ordnung bringen können. Ich werde sie morgen ansprechen.«
»Es entbehrt ja nicht einer gewissen Ironie«, bemerkte Emily Winter, als Christopher mit seiner Bitte bei ihr anklopfte. »Ausgerechnet ich schneidere das weiße Kleid deiner jungfräulichen Braut ... Sie ist doch noch Jungfrau, oder?«
Emily stand in der Tür ihres Hauses. Sie war keineswegs allein mit Christopher, schaffte es aber doch, sich so zu positionieren, dass ihre Haltung aufreizend auf ihn wirkte. Emily war eine relativ kleine, aber gut gebaute Frau mit weichen Rundungen und einem puppenhaften Gesicht mit sahneweißem, weichem Teint. Ihre Lider hingen schwer über den grünbraunen Augen, ihr braunes Haar fiel in üppigen Locken über ihren Rücken, wenn sie es nicht in einem tief sitzenden Dutt bändigte, wie jetzt.
»Selbstverständlich habe ich sie nicht angerührt!«, erklärte Christopher. »Und bitte, Emily, sieh mich nicht so an. Ich bin ein fast schon verheirateter Mann, und die Sache mit uns hat genug Ärger bereitet ...«
Emily lachte ein heiseres Lachen. »Trotzdem würdest du Jahre deines Lebens dafür geben, wenn ich an deinem Hochzeitstag neben dir herschreiten und ein
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